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Lemmings Himmelfahrt

Lemmings Himmelfahrt

Titel: Lemmings Himmelfahrt
Autoren: Stefan Slupetzky
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weit mehr: Da ist zunächst der seltsam schockierende Anblick des Toten, der vor ihm auf dem Boden liegt. Nicht, dass ihm bei diesem Anblick das Herz gebrochen wäre. Krotznig hat sich eigentlich kaum verändert; er ist schon zu Lebzeiten nur eine leere Hülle gewesen. Nein, die Plötzlichkeit des Geschehens ist es, die den Lemming erschüttert, vor allem aber die Leichtigkeit, mit der dieser geifernde Primat, diese Entgleisung der Natur, dieser Gipfelstürmer der Niedertracht, dieser Schandfleck aus seinem Dasein radiert worden ist. Ein winziger Druck auf den Abzug, so einfach, so unspektakulär   … Ist ein solcher Tod dem Leben Krotznigs angemessen? Kann man so nebenbei Abschied nehmen von seinem ewigen Gegner, seiner steten Bedrohung, seinem jahrelangen Herzensfeind?
    Man kann.
    Der Lemming wendet sich also der zweiten, weitaus brisanteren Frage zu: Warum hat Dieter Tobler das getan? Im Grundeahnt er die Antwort bereits, er kennt das Gefühl, vom Regen in die Traufe zu geraten, von der Traufe in den Sturzbach, vom Sturzbach in den Dammbruch   … Wenn Krotznig ein Schandfleck war, dann ist Tobler eine ganze Müllhalde. Sondermüll, wohlgemerkt: strahlend und absolut tödlich   …
    «Wirklich, Herr Wallisch. Sie überraschen mich doch jedes Mal aufs Neue. Wie um alles in der Welt sind Sie aus der Gruft getürmt? Falls Sie geflogen sind, muss ich Sie auf einen klassischen Stilbruch hinweisen: Der mit den Flügeln war nicht Odysseus, sondern Ikarus. Und wie wir ja wissen, ist er dem Himmel ein bisserl zu nahe gekommen   …»
    Tobler wartet vergeblich auf Antwort. Er seufzt.
    «Sie wollen also nicht mit mir reden. Sie halten mich für, wie soll ich sagen   … für das Böse schlechthin. Und mit dem Bösen spricht man nicht, das haben wir ja von klein auf gelernt. Man könnte sich daran infizieren, stimmt’s?»
    Langsam hebt jetzt der Lemming den Kopf, blickt dem Arzt ins Gesicht.
    «Nein», sagt er ganz leise. «Nein. Sie sind nur   … unglaublich verspielt   …»
    Einen Moment lang scheint es so, als wäre Dieter Tobler ehrlich verblüfft. Sein schalkhaftes Grinsen friert ein, taut dann als warmes Lächeln wieder auf. In seine Augen tritt ein weicher Glanz.
    «Schade, dass wir einander nicht früher begegnet sind. Ich hätte viel Spaß mit Ihnen haben können   … noch mehr Spaß, als ich ihn sowieso schon hatte. Sie sind so herrlich   … sensibel.» Mit dem versonnenen Ausdruck eines Kindes, das den letzten Bissen Schokolade genießt und zugleich bedauert, betrachtet Tobler den Lemming. «Aber es hilft ja nichts», meint er endlich und zuckt die Achseln. «Wir sollten die Sache zu Ende bringen, bevor man uns hier aufstöbert. Gut möglich, dass man die Schüsse drüben in
Walhall
gehört hat   … Alsodrehen Sie sich um, Herr Wallisch, und gehen S’ dann ein paar Schritte rückwärts   …»
    Der Lemming gehorcht. Ihm bleibt keine andere Wahl. Viel zu müde sind seine Beine, als dass er weglaufen könnte, viel zu wund seine Fußsohlen. Viel zu nahe ist er dem Arzt, um kein perfektes Ziel für dessen Kugeln abzugeben, aber viel zu weit weg, um einen Angriff zu wagen. Viel zu weit entfernt liegt auch
Walhall,
um in den folgenden zehn Minuten mit Hilfe rechnen zu können.
    «Gut so. Bleiben S’ jetzt stehen. Ich sag Ihnen, was wir als Nächstes machen. Ihre Wahrheit haben Sie ja gehabt, wie versprochen. Mein Buch haben S’ wahrscheinlich irgendwo versteckt; ich glaube kaum, dass Sie so dumm waren, es zu verbrennen: Erstens wäre es Ihr Ticket in die Freiheit g’wesen, wenn noch ein Zug dahin gefahren wär, und zweitens brauch ich’s noch; es ist nämlich mein einziges   …»
    Obwohl Dieter Tobler nun hinter ihm steht, kann der Lemming sein schelmisches Schmunzeln spüren, seinen Triumph.
    «Das hätten Sie nicht geglaubt, oder? Also wollen Sie mir verraten, wo Sie es gelassen haben? Oder liegt es etwa noch unten in der Krypta, beim Freiherrn von Sothen? Egal, ich kann es nachher auch noch suchen   … Was wir also tun werden, Herr Wallisch, ist so einfach wie ruhmreich: Wir verschaffen Ihnen einen Ehrenplatz in der österreichischen Kriminalgeschichte. Sie haben den Ferdinand Buchwieser auf dem Naschmarkt abgemurkst, dann psychiatrische Hilfe
Unter den Ulmen
gesucht, hier heroben den armen Nestor Balint kaltgemacht, und später, auf der Flucht, den netten Herrn Kommissar ins Jenseits befördert. Akute Psychose, würde ich sagen, ein äußerst schwerer Fall. Und weil Sie’s am Ende nervlich
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