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Lemmings Himmelfahrt

Lemmings Himmelfahrt

Titel: Lemmings Himmelfahrt
Autoren: Stefan Slupetzky
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herrliches Gefühl ist das, ein einziges Fest für die kalten Füße, die ausgehungerten Sinne. Während der Lemming ins Freie tritt, fügt er dem Lied der vier Nymphen im Geist eine weitere Strophe hinzu: Die Sonne, die Wärme, das Licht und die Luft, der Gräser und Blumen unschätzbarer Duft   …
    Sie haben es also geschafft. Haben die Leiter gefunden und sie mit vereinten Kräften, nicht weniger achtsam als unbeholfen, in die Gruft hinabgelassen. Haben den Lemming befreit. Und wie um sein Glück noch zu steigern, nimmt ihn nun eine der vier an der Hand und sagt:
    «Komm, wir wollen draußen tanzen   …»
    «Wir tanzen immer draußen», meint kichernd eine der anderen.
    «Du darfst es aber keinem erzählen; es ist unser großes Geheimnis   …»
    Keine zehn Meter hinter der Sisi-Kapelle erhebt sich, halb von mächtigen Sträuchern verdeckt, die Mauer der Klinik. Hier oben, in der vergessenen nördlichen Ecke des Geländes, trägt sie ein anderes Gesicht als vorne beim Pförtnerhaus. Rissig, verwittert, zerfurcht steht sie da, überwuchert von Moosen und Farnen, gezeichnet vom Wechsel der Jahreszeiten. In Würde gealtert, immer noch rüstig zwar, aber im Abbau begriffen.
    «Komm, na komm schon, hier ist es   …»
    Der Lemming wird ins Unterholz gezerrt. Er fängt schon jetzt zu tanzen an, hüpft über Dornen und spitze Steine, die seine Fußsohlen malträtieren, kämpft gegen Zweige, die ihm ins Gesicht schnalzen, taumelt strauchelnd durchs Gesträuch. Und dann, inmitten der Stauden, sieht er die Pforte im brüchigen Mauerwerk, den völlig verrotteten Rest einer Tür. Das also ist er, der Fluchtweg der Downie-Girls, der ihrem armen Pfleger Theo so viel Kopfzerbrechen bereitet: verwildert, verwachsen, auch von der anderen Seite der Mauer nicht zu erkennen, ein wundervolles Geheimnis   …
    Weiter wird der Lemming fortgerissen, bis er endlich, halb gezogen, halb geschoben, aus den Büschen bricht. Er wendet den Kopf und kann es kaum fassen: Die
Ulmen
liegen hinter ihm.
    Freiheit, denkt er, Freiheit. Alles ist gut   …
    «Wir tanzen, wir tanzen   …»
    Sie halten ihn fest und lassen ihn nicht mehr los, sie wirbeln mit ihm durch das Laub, dass es aufstiebt bis zu den Hüften. Vier Feen, ein Faun im wogenden Reigen, ein nicht eben sehr elegantes Panoptikum pirouettierender Waldgeister, plump die einen, verwirrt und erschöpft der andere, aber trotz aller Schwerfälligkeit ein Ausbund an Lebenslust. Auch die Gedanken des Lemming tanzen jetzt, sie durchtanzen die jüngsten Ereignisse, die ihn aus seiner wasserdurchfluteten Wohnung in diesen lichtdurchfluteten Wald geführt haben. Noch einmal durchlebt er im Geist das ganze Geschehen, den Schrecken, den Irrsinn, den Schmerz und die Angst der letzten drei Tage. Und während sich seine Erinnerung in zügigem Tempo der Gegenwart nähert, verlangsamen sich seine Schritte. Er löst seine Hände aus jenen der Frauen und bleibt stehen.
    Nichts ist gut.
    Nichts ist gut für den kleinen, verschrobenen Grock, der sichin höchster Gefahr befindet. Nichts ist gut für Simon Stillmanns junges Gemüt, das bald für immer zerstört zu werden droht. Nichts ist gut für Rebekka, die an der furchtbaren Wahrheit zerbrechen wird. Stummer denn je gellt Robert Stillmanns verzweifelter Hilferuf: Auch für ihn ist nichts gut. Und schließlich für den Lemming selbst: Nach wie vor trachten ihm Krotznig und Tobler nach dem Leben, nach wie vor gilt er als der Mörder Balints und Buchwiesers, nach wie vor vermag er das Gegenteil nicht zu beweisen. Denn der einzige Hinweis auf seine Unschuld ist Toblers Notizbuch, Toblers Vermächtnis   …
    Und das hat er in der Kapelle vergessen.
    Gar nichts ist gut.
    «Was ist denn mit dir? Tanz doch weiter   …»
    «Ich kann nicht   …», murmelt der Lemming und schüttelt den Kopf. «Ich kann nicht mehr   …»
    Klein und verzagt und gebeugt, geknickt von der eigenen Unbedachtheit, so verlässt er seine Gefährtinnen, um in die Klinik zurückzukehren.
    Noch einmal kämpft er sich durch das Gestrüpp, humpelt, so schnell es ihm möglich ist, auf die Kapelle zu, schlüpft durch den Wandspalt ins Innere. Die Lampe brennt immer noch in der Grube, weist ihm den Weg, ein Glück nur, denkt er, dass sie von der sparsamen Großmutter nicht gelöscht worden ist   … Er tastet sich vor, klettert die Leiter hinab. Hebt das Buch auf und schiebt es rasch in die Tasche von Balints Sakko.
    Jetzt nichts wie raus hier, denkt er, weg von diesem widerlichen Ort
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