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Lemmings Himmelfahrt

Lemmings Himmelfahrt

Titel: Lemmings Himmelfahrt
Autoren: Stefan Slupetzky
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    In der Nacht zum 27.   Juni 2001 schlägt die östliche Lithosphäre den Mantelkragen hoch. Es ist kurz vor halb drei, als sich die zähen Erdmassen des Wiener Beckens in Bewegung setzen, um ihre wellenförmigen Stöße, den wogenden Armen einer balinesischen Tänzerin gleich, gegen den Balkan zu senden. Ein Sandkastenbeben, im Grunde nicht mehr als ein seismischer Furz, aber doch stark genug, um in der Buckligen Welt ein paar tausend Menschen den Schlaf zu rauben und wenig später, wenn auch schon reichlich geschwächt, durch die Pforten Wiens zu branden, um daselbst mit letzter Kraft in der Küche einer Wohnung eines Hauses im neunten Gemeindebezirk die Lötstelle eines Wasserrohrs zu kappen.
    Dass dieses Naturkataströphchen, diese winzige kontinentale Inkontinenz nur das erste Glied einer Kette weit schwerer wiegender Ereignisse bilden wird, ahnt zu diesem Zeitpunkt niemand. Nicht einmal der Lemming selbst. Er liegt und träumt.
    In seinen nächtlichen Phantasien schaukelt er in einer kolossalen Hängematte, die zwischen den beiden Palmen einer klassischen Witzblatt-Südseeinsel aufgespannt ist. Nur wenige Meter entfernt hockt ein Löwe im Sand, ein zwar athletisches, doch leidlich wildes Tier von plüschartiger Beschaffenheit. Der Löwe wedelt fröhlich mit dem Schwanz, wie um den Lemming zum Spielen aufzufordern, aber der will weiterdösen. Lass mich in Ruhe, träumt der Lemming. Er versucht, dem Tier seine Worte begreiflich zu machen, siein die Löwensprache zu übersetzen: «Rulichen hassim. Hich massli rune. Melissa nurchli», brummt der Lemming im Schlaf. Endlich scheint der Löwe zu verstehen, doch er billigt die kränkende Abfuhr nicht. Stummen Protest in den gelben Augen, beginnt er auf der Stelle, in den Sand zu urinieren. Endlose Schwalle glitzernden Löwenharns versickern in der Erde und lassen bald den Meeresspiegel steigen; nach und nach frisst der Pazifik die Insel, bis nur noch die Palmen aus dem Wasser ragen. Der Lemming fühlt sich sehr erschöpft und unerhört hoffnungslos. Am Ende zeichnet der große Zeh seines rechten, lässig über den Rand der Hängematte geworfenen Beines sanfte Kräusel und Schlieren in den Ozean.
    Nicht selten spiegelt ein Traum die unvernarbten Scharten wider, welche die Vergangenheit in die Seele des Träumers geschlagen hat; zuweilen ist es aber auch die Gegenwart, die seine Visionen nährt: Die Hupe eines Automobils verwandelt sich ins unheilschwangere Nebelhorn eines Panzerkreuzers, das Krabbeln einer Stubenfliege auf dem Hals des Schlafenden wird zum frivolen Liebesspiel eines züngelnden Nymphchens. Manchmal aber, so heißt es, weisen die nächtlichen Schimären direkt auf die Zukunft hin, als seien sie der Trailer eines längst noch nicht gedrehten Films.
    Der Traum des Lemming nährt sich offenbar aus allen dreien; Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verflechten sich darin zum abgründigen Gaukelwerk: Seine neue Stellung als Nachtwächter im Schönbrunner Tiergarten beschert ihm den Löwen; die Tatsache, dass sein rechter Fuß tatsächlich zur Hälfte im Wasser hängt, beschert ihm die Flut; und ein bislang noch nicht vorhersehbarer Umstand, dass sich nämlich vor Ablauf der nächsten vier Stunden sein leidlich geordnetes Leben in ein höllisches Chaos verwandeln wird, beschert ihm wohl seine paralytische Mutlosigkeit.
    Kein guter Traum. Nicht besser als die Wirklichkeit, befindetder kleine, wackere Schutzmann, der tief in der Seele des Schläfers Wache hält. Das Männchen drückt einen Schalter, legt einen Hebel um, und schon schlägt der Lemming die Augen auf.
    Er findet sich auf jenem hölzernen Eiland wieder, das sein Bett ist. Er wälzt sich mit verhaltenem Seufzen auf den Bauch. Er starrt eine Zeit lang auf den sanft oszillierenden Boden und wird dann seiner Filzpantoffeln gewahr, die mitten im halbdunklen Zimmer treiben wie zwei unbemannte Rettungskähne. Seite an Seite auf ruhiger See, einen halben Fuß unter dem Kiel das vertraute Fischgrätenmuster des Eichenparketts: ein malerischer Anblick, wenn auch kein tröstlicher um vier Uhr nachts.
    Mit dem Ausdruck stiller Ergebenheit erhebt sich der Lemming und watet in Richtung Telefon. Ja, er ist müde. Ja, das Schicksal hat ihn gebeugt, ihn mehr als einmal in die Knie gezwungen. Es hat ihn aber auch eine gewisse Demut gelehrt, eine Art geistiger Elastizität, die ihn davor bewahrt, sich von Unbilden und Pechsträhnen vollends brechen zu lassen. Zumindest pflegt er sich das einzureden.
    Die Türglocke
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