Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Lemmings Himmelfahrt

Lemmings Himmelfahrt

Titel: Lemmings Himmelfahrt
Autoren: Stefan Slupetzky
Vom Netzwerk:
Grock nicht mehr zu sehen ist.
    An ihnen vorbei streicht der Wald. Lichtflecken tanzen über die Windschutzscheibe. Obwohl der Professor langsam fährt, streichelt der Fahrtwind die Haare des Lemming: ein Vergnügen, das dem beinahe kahlen Bernatzky versagt bleibt. Er sitzt auf der kunststoffbezogenen Bank wie ein Herrenreiter, den Rücken gestreckt und das Kinn hoch erhoben, um über das Lenkrad spähen zu können.
    «Professor?»
    «No was denn, Wallisch?»
    «Könnten Sie kurz anhalten?»
    «Sicher   … Aber such dir einen Busch; nicht dass d’ mir auf die Reifen wiescherlst   …»
    Der Lemming öffnet die Autotür, steigt aufs Trittbrett und lauscht. Es dauert kaum eine Minute, da kann er leise, ganz leise vernehmen, worauf er gewartet hat.
    «Wir tanzen, wir tanzen   …»
    «Können Sie das hören, Professor? Können Sie die Stimmen hören?», flüstert der Lemming, ein Lächeln auf dem Gesicht. Bernatzky mustert ihn lange und skeptisch. Dann meint er: «Net bös sein, Wallisch. Aber ich glaub, du brauchst jetzt ein bisserl Urlaub vom Gugelhupf   …»
    Bald knattern sie die Himmelstraße hinunter, direkt nach Grinzing, das noch seinen Kater vom Vorabend ausschläft. Vor den geschlossenen Pforten der Heurigen baumeln die
Buschen
im Sonnenlicht, kleine Sträuße aus Föhrenzweigen, mit denen die Wirte signalisieren, dass
ausg’steckt
, also im Grunde geöffnet ist.
    «Jetzt sag einmal», nimmt Bernatzky nach einer Weile den Faden wieder auf. «Wie war’s denn so bei den Verhaltenskreativen?»
    «Es war   … Es war schlimmer, als Sie sich vorstellen können.Wenn mir die Patienten nicht geholfen hätten, dann hätten mich die Irren völlig wahnsinnig gemacht   …»
    Der Professor lacht auf. Er weiß nicht, wie ernst es dem Lemming ist.
    «Verstehe   … Die Pollak hat mir schon so was gesagt. Ich schlag vor, wir gehen demnächst auf ein Achterl und du erzählst mir die ganze G’schicht, aber net da in Grinzing, in der verkitschten Touristenfalle   … Morgen Abend vielleicht, wennst Zeit hast, beim Zawodil drüben, da war i scho lang nimmer   …»
    «Gut   …», sagt der Lemming. «Gut. Morgen Abend.» Ein Reiter, der vom Pferd stürzt, denkt er, sollte sofort wieder aufsteigen. Dass sein Aufstieg zum Himmel beim Zawodil begonnen hat, spricht folglich dafür, sofort wieder hinzustürzen. Den Zawodil trifft keine Schuld, denkt der Lemming. Ich lass mir den Zawodil nicht vermiesen   …
    Über Grinzinger Allee und Billrothstraße nähert sich die Ente der Rossau, schaukelt der devastierten Wohnung des Lemming entgegen, seinem Ententeich im dritten Stock.
    «Können Sie vorne beim Gürtel abbiegen, Professor? Ich   … will nicht nach Hause   …»
    Bernatzky horcht auf. «Und wohin soll die Reise gehen?», fragt er mit prüfendem Seitenblick.
    «Nach Ottakring. Zur Klara   …»
    Der Lemming hat eine Entscheidung getroffen: Es kommt ihm auf einmal so vor, als könne er nun gar nicht mehr genug bekommen von der Wahrheit, und sei sie auch noch so nackt und ungeschminkt. Jetzt will er es wissen. Jetzt will er alles wissen, endgültig alles, und er wird es Klara nicht ersparen, ihm dieses Alles ins Gesicht zu sagen: das
Wo
und das
Wann
und das
Wie-lange-schon
, vor allem aber das
Warum

    «Weißt, was der Ibsen g’sagt hat? Der Norweger?» Bernatzky zwinkert dem Lemming zu, während er den Wagen schlingerndin die Kurve legt. «Ich weiß nicht, wie ich grad jetzt drauf komm, es is nur so eine Ahnung. Er hat g’sagt, der Ibsen:
Man sollte nie seine beste Hose anziehen, wenn man hingeht, um für Freiheit und Wahrheit zu kämpfen   …
»
    Bernatzky, du alter, durchtriebener Fuchs   …
    «Aber morgen, Wallisch, beim Heurigen, sei mir so lieb und zieh dir wenigstens Schuhe an   …»
     
    Über Klara Breitners Haus in Ottakring hängt ein weißes Ei am Firmament. Der Lemming hebt zögernd die Hand, fährt sich über die Augen, aber das Ei lässt sich nicht vom Himmel wischen. Ein Zeppelin, denkt der Lemming erleichtert, es ist nur ein Zeppelin   … Er stößt die Gartentür auf, hinkt den Kiesweg entlang, entschlossen und grimmig, und als er die Klingel drückt, kommt ihm einmal mehr Odysseus in den Sinn: Odysseus, der nach seiner Irrfahrt als Bettler verkleidet im Haus Penelopes erscheint, um seine Rivalen niederzumetzeln   …
    «Ja bitte?»
    Da steht sie, die Wahrheit. Ungeschminkt und nackt steht sie vor ihm, halb nackt zumindest, und es ist nicht Klara Breitner. Ein Mann ist es, ein
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher