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Lehrerzimmer

Lehrerzimmer

Titel: Lehrerzimmer
Autoren: Markus Orth
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während der Konferenzen jede einzelne Kopfnote jedes einzelnen Schülers vorzulesen, ich summte nun innerlich diese beruhigende Melodie und sah dabei das müde Nicken der um den
    Konferenztisch sitzenden Lehrer förmlich vor mir, auf deren Häuptern eine eigentümliche Stille und Andacht lag, als es hieß, Caroline hat ihre Aufgaben stets zur vollsten
    Zufriedenheit ihrer Lehrer erfüllt, sie beteiligte sich rege am Unterricht, war immer aufmerksam, verrichtete ihre Pflichten sorgfältig und pünktlich, konnte den Stoff in seiner gesamten Fülle gut nachvollziehen und ist in der Klasse beliebt, Frank hat seine Aufgaben nicht immer zur vollsten Zufriedenheit seiner Lehrer erfüllt, er beteiligte sich gelegentlich am Unterricht, war nicht immer aufmerksam, verrichtete seine Pflichten meist sorgfältig und pünktlich, konnte den Stoff in seiner gesamten Fülle fast immer nachvollziehen und ist in der Klasse geduldet, Pia hat ihre Aufgaben nicht zur Zufriedenheit ihrer Lehrer erfüllt, sie beteiligte sich nie am Unterricht, war häufig unaufmerksam, verrichtete ihre Pflichten weder
    sorgfältig noch pünktlich, konnte den Stoff in seiner gesamten Fülle überhaupt nicht nachvollziehen und ist in der Klasse überaus beliebt, eine Realschulempfehlung wird
    ausgesprochen. Das Telefon. Ich riss die Augen auf. Ich saß in meinem Schaukelstuhl. Draußen war es hell. Acht Uhr
    morgens. Die Anstrengungen der letzten Tage hatten mich übermannt. Was für ein Tag war heute? Freitag? Ich war wie gelähmt und konnte meine Hand nicht ausstrecken, um nach dem Telefon zu greifen, sodass ich meiner eigenen Ansage zuhörte, um anschließend Frau Saffts Stimme zu vernehmen, gestern sei es so spät geworden, da habe sie nicht mehr stören wollen, also hier die Nummer: 5387. Viel Glück. Dann
    lauschte ich auf das Schlusspiepsen des Anrufbeantworters und öffnete den Koffer. Im Koffer befanden sich ein gefälschter Pass mit einem Foto von mir auf den Namen Edwin Röder
    samt Abiturzeugnis, Erstem und Zweitem Staatsexamen,
    Ernennungsurkunde zum Studienrat, ein Mietvertrag mit
    Wohnungsschlüssel und genauer Lagebeschreibung in einem Frankfurter Stadtplan, ein Konto über 10000 Euro, hinterlegt bei der Deutschen Bank, das Geld, hieß es in einem
    Begleitschreiben, werde ab Montag, dreizehn Uhr für mich freigegeben, falls ich mich zuvor um acht Uhr morgens am HDGG in Frankfurt einfinden würde, sollte ich mich dazu entschließen, eine Stelle in Hessen anzunehmen, bei den Roten. Außerdem fand ich noch einen dick gepolsterten
    Umschlag, auf dem stand Für die Flucht aus Baden-
    Württemberg vielleicht von Nutzen. Drin fand ich Pistole, Munition und eine Bedienungsanleitung. Ich las die
    Bedienungsanleitung, lud die Pistole, steckte sie mir vorn in die Hose, zog das Hemd drüber, verbrannte meinen alten Pass und alles, woran man meine bisherige Identität hätte
    festmachen können, in der Badewanne, schnappte mir einen Koffer, stopfte die neuen Dokumente und einige
    Kleidungsstücke und Dinge, die mir wichtig erschienen, hinein, nahm den Koffer, ging zum Bahnhof, gemütlich,
    langsam, ohne Eile, stieg in den Zug nach Göppingen, fand, als ich den abgeknipsten Fahrschein in den Seitentaschen meiner Jacke verstaute, die aus der Göppinger Tageszeitung
    herausgerissenen Wohnungsannoncen, zerknüllte sie, warf sie fort und atmete durch. In Göppingen schloss ich den Koffer in ein Schließfach und machte mich auf den Weg. Sechs, null begrüßte mich Herr Krämer. Null, nickte ich.
    Ich kam gerade rechtzeitig. Fünf Minuten vor Beginn der großen Pause. Ich ging zu Pascal, der eine Freistunde hatte, und wünschte ihm viel Glück für die Verleihung der Goldenen Missio, Achim Renner musste ich trösten, da ein Schüler am gestrigen Tag eine der Statuen aus Versehen umgestoßen hatte.
    Kniemann, Klüting, Linnemann und die meisten anderen
    waren im Unterricht. Ich sagte Renner, er solle Grüße
    ausrichten, an alle, die ich kenne. Wieso? fragte er, was ist los?
    In diesem Augenblick klingelte es. Ich fragte Renner zurück, warum er nicht einfach die Schule schmeißen würde? Und dann? fragte er verständnislos. Wo soll ich dann hin? Nach Bali, sagte ich und stellte mich an die Tür zum Lehrerzimmer.
    Die Lehrer strömten herein. Als nach fünf Minuten alle mit Ausnahme der Pausenaufsichten vollzählig versammelt waren, zog ich einen der beiden gestern erbeuteten Schlüssel aus meiner Hosentasche, räusperte mich und rief, ich habe einen Schlüssel
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