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Lehrerzimmer

Lehrerzimmer

Titel: Lehrerzimmer
Autoren: Markus Orth
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erledigt, fuhr der Weiße fort. Da man nun schon einmal hier sei, wolle man die Situation beim Schopf packen und auch einige der übrigen Lehrer des
    scheinbar aufmüpfigen Kollegiums bei der Ausübung ihrer Pflichten zur Kontrolle bitten. Dreizehn Lehrer, sagte der Weiße, seien nach dem Zufallsprinzip zur überprüfenden Stundenüberwachung ausgewählt worden. Er begann nun eine Liste von Namen vorzulesen. Alphabetisch. Jeder, dessen Name nicht genannt wurde, atmete auf und ließ sich auf seinen Stuhl fallen. Ammei, Bruns, Kramny, Kranich… Mehr hörte ich nicht. Von diesem Augenblick an erlebte ich alles nur noch in Trance, sah einen der Weißen, der durch eine unheimlich schimmernde Schicht Nebel wie in Zeitlupe auf mich
    zuzuschweben schien, ich konnte ihm nicht in die Augen sehen, da er eine verspiegelte Brille trug. Der Weiße nahm mich am Arm, fasste meine Schultasche und führte mich aus dem Lehrerzimmer, er fragte nichts, er schien über alles Bescheid zu wissen, er führte mich wie einen Blinden durchs Schulgebäude genau in den Raum, in dem die 10d auf mich wartete. Mir schwindelte, ich konnte mich kaum aufrecht halten, als sich der Weiße in die letzte Reihe setzte, einen Beurteilungsprotokollbogen auf die Schreibunterlage spannte und mit gezücktem Stift wartete. Ich brachte nur ein heiseres Krächzen heraus. Guten Tag, begrüßte ich die Schüler auf Deutsch, da mir das englische Wort auf die Schnelle nicht einfiel. Die Schüler aber versuchten mir zu helfen und kritzelten auf leere Blätter Sätze und Stichworte, an denen entlang ich mich einigermaßen durch die ersten fünfzehn Minuten hangeln konnte. Danach hatte ich mich ein wenig gefangen, mein Atem ging ruhiger, ich konnte wieder etwas durch den dichten Nebel, der aus meinen Augen quoll,
    wahrnehmen. Ich konnte die einzelnen Gesichter der Schüler wieder erkennen und dann auch den Weißen. Fortan achtete ich nur noch auf den Weißen. Der schrieb unaufhörlich. Griff er sich ans Ohr, stockte mir der Atem. Zog sich seine Stirn zusammen bei einem von mir geäußerten Wort, rief ich sofort falsch in die Klasse; wenn er dann erstaunt von seinem Block aufsah, sagte ich, nein, doch richtig. Was er nur die ganze Zeit schrieb? dachte ich unentwegt, er schrieb ja mehr als ich sagte, mehr als die Schüler sagten, er schrieb ein ganzes Buch voll, er hörte gar nicht mehr auf zu schreiben, so viele Fehler, wie er sich notiert, kann man gar nicht machen, dachte ich, vielleicht schrieb er auch andere Sachen auf, meine Haltung, ich drückte die Brust raus, meine Stimme, ich begann zu schreien, meine Schrift, ich malte die einzelnen Buchstaben in exakten Proportionen an die Tafel, ich wäre gern zu ihm hingegangen und hätte ihm über die Schulter geschaut, hätte gesagt, ach so, ja, klar ist das falsch, was ich da gesagt habe, ich habe es gewusst, in dem Moment, als ich es gesagt habe, hab ich schon gewusst, dass es falsch war, ich habe es extra falsch gesagt, nur, um die Schüler zu prüfen, ob sie das falsche Wort erkennen würden. Vielleicht, dachte ich plötzlich, schrieb er auch positive Dinge auf, aber nein, überlegte ich dann, was gibt es an dieser Stunde schon Positives? Kurz vorm
    Zusammenbruch rettete mich das Klingelzeichen, und auch die Schüler wischten sich den Schweiß von der Stirn. Ich setzte mich, öffnete mit letzter Kraft das Klassenbuch, trug mein Kürzel ein und fragte mich, was überhaupt der Stoff der soeben gehaltenen Stunde gewesen war. Ich wusste es nicht.
    Ich schrieb: Wiederholung. Dann führte mich der Weiße in ein leeres Klassenzimmer, und ich atmete tief durch, als ich mich ihm gegenüber hinsetzte und erwartungsvoll auf die
    Beurteilungsprotokollbögen blickte, die er vor sich auf den Knien hielt. Er hatte zehn von den Bögen voll geschrieben. Ich war auf alles gefasst. Ich dachte, er würde gleich lospoltern, schreien, mir Vorhaltungen machen, mich einen unfähigen, nutzlosen, völlig verfehlten Lehrer schelten, aber nichts dergleichen geschah. In aller Ruhe las er sich das, was er geschrieben hatte, durch, zehn Minuten, zwanzig Minuten, eine halbe Stunde, nichts. Ich fragte ihn, und? Er reagierte nicht. Noch einmal zehn Minuten, zwanzig Minuten, da sah er plötzlich auf, ich erstarrte, er nahm, langsam, so langsam es ging, seine Brille ab, ich blickte in ein Paar wässrig schimmernde hellblaue Augen, und der Weiße öffnete seine Lippen, er zog jede Silbe genüsslich in die Länge, als er sagte: KON-SE-QUEN-ZEN. Dann stand
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