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Lehrerzimmer

Lehrerzimmer

Titel: Lehrerzimmer
Autoren: Markus Orth
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er auf, drehte sich um und ließ mich allein im Raum zurück. Ich zitterte und fühlte mich schlecht. Ich beschloss, mich für den Rest des Tages krank zu melden, dachte dann aber an Bassels Vertretungsplan und verwarf den Gedanken wieder. Ich ging ins Lehrerzimmer, das einem Schlachtfeld glich. Überall hingen Lehrer, geschlagen, erledigt, über und über von den Kämpfen der Prüfung
    gezeichnet. Sie wurden von denjenigen, die verschont
    geblieben waren, versorgt. Auch mich nahm sogleich Hilde Bräunle in Empfang, warf mir eine Decke über und brachte mich auf einen Platz auf dem Sofa, sie reichte mir Tee und rieb mir die Hände, eine grenzenlose Dankbarkeit stieg in mir hoch, Frau Bräunle, sagte ich, mit Tränen in den Augen, das werde ich Ihnen nie vergessen. Auf den Gängen, erzählte man mir, sei das Chaos ausgebrochen. Die geprüften Lehrer waren nicht mehr des Unterrichtens fähig, die unbeaufsichtigten Schüler verließen ihre Klassenräume.
    In dem allgemeinen Durcheinander war ich der Einzige, der nach einer halben Stunde ein leises Klopfen an der
    Lehrerzimmertür vernahm. Mit wackligen Beinen stemmte ich mich vom Sofa, schleppte mich zur Tür und öffnete. Ein Fünftklässler mit riesigem Tornister stand auf dem Gang. Ich trat zu ihm hinaus. Das hier, sagte er, habe er gefunden. Er wolle es abgeben. Ich sagte nichts, krampfte meine Klaue um den Schlüssel, den er mir reichte, steckte ihn in die
    Hosentasche, wo er an Stramms Schlüssel klirrte, und strich mir über die Stirn. Ich erinnerte mich an meinen Schwur von heute Morgen, daran, dass ich Höllinger zwei Schlüssel bringen wollte, heute noch, daran, dass dann alles wieder gut wäre, dass er mich von der Liste streichen und ich fortan Höllingers Fraktion verstärken würde. Jetzt hatte ich die beiden Schlüssel. Aber in diesem Augenblick ergriff mich ein neuer Schwächeanfall, die Knie drohten mir wegzusacken, ich wankte zurück ins Lehrerzimmer und ließ mich aufs Sofa fallen, ich schloss die Augen und dachte, ich habe die Schlüssel, es kann nichts mehr schief gehen, ich muss sie nicht heute abgeben, ich kann es morgen tun, mit frischer Kraft will ich Höllinger gegenübertreten, morgen, dachte ich, morgen werde ich es tun, morgen wird er mich von der Liste streichen.
    Neben mir saß Kniemann und sagte, das sei typisch, noch nie sei sie geprüft worden, immer dürften die anderen ran, vor ihr und ihrem Wissen scheine man Angst zu haben, selbst die Weißen. Ich reichte ihr den Zettel mit meinen Fragen, und für die nächsten fünfzehn Minuten redete Kniemann leise
    flüsternd auf mich ein, und ich tat so, als hörte ich ihr zu.

    20

    Wieder zu Hause, galt mein erster Blick dem
    Anrufbeantworter. Ich hatte drei Nachrichten. Die Erste von meiner Mutter. Wie es mir ginge, was die Schule mache, ob ich einen guten Start erwischt hätte, wie die Kollegen seien, wie der Direktor… Ich drückte auf Löschen. Die zweite
    Nachricht war vom Direktor. Ihm sei zu Ohren gekommen, dass ich am heutigen Tag zwei Schlüssel an mich genommen, aber nicht ihm, Höllinger, abgeliefert hätte. Dies sei ein Vertrauensbruch ihm gegenüber und eine Missachtung meiner Pflichten als GSB. Das hätte ein Nachspiel. Morgen in der großen Pause bei ihm. Die dritte Nachricht kam von Frau Safft.
    Sie habe die Videokassette in der Hand, sie könne die Nummer deutlich lesen. Sie wisse zwar nicht, warum um alles in der Welt ich mich derart für diese Nummer interessiere, aber da ich am Telefon den Anschein erweckt hätte, dieser Sachverhalt sei mir nicht unwichtig, wolle sie mir mitteilen, es handle sich um die Nummer… Da war das Band meines
    Anrufbeantworters zu Ende gelaufen. Ich setzte mich auf den Teppich neben das Telefon und zog eine Zigarette aus der Schachtel. Ich sah auf meinem Handrücken nach, wählte, es meldete sich der Anrufbeantworter. Ich wandte mich an Herrn und Frau Safft, sie möchten doch so freundlich sein, mir noch einmal die Nummer durchzugeben.
    Den Rest des Tages verbrachte ich mit Vorbereitungen, hatte aber die ganze Zeit das Gefühl, nicht bei der Sache zu sein.
    Um Mitternacht war ich fertig, aß und saß dann teilnahmslos im Sessel. Ich hatte den Koffer auf den Schoß genommen und hielt mich an ihm fest. Ich meditierte. Ich wählte eine Meditationsform, die ich im Referendariat während der
    Notenkonferenzen für die fünfte und sechste Klasse beim Verlesen der sogenannten Kopfnoten kennen gelernt hatte.
    Verordnungsgemäß war man dazu verpflichtet,
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