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Lehrerzimmer

Lehrerzimmer

Titel: Lehrerzimmer
Autoren: Markus Orth
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Aussteigenden einen Zettel auf den Schoß, auf dem deutlich lesbar stand: Treffen, Bahnhof Stuttgart, 21.00 Uhr. Ich drehte mich um und sah gerade noch, dass eine ganz in Rot gekleidete Person den Großraumwagen verließ und ausstieg. Der Zug setzte sich wieder in Bewegung.
    Der Rote stand mit dem Rücken mir zugekehrt auf dem
    Bahnsteig und regte sich nicht. Ratlos blickte ich auf den Zettel und wusste nicht, was ich davon zu halten hatte.
    In Stuttgart legte ich mich gleich ins Bett. Da an diesem Tag vier Stunden ausgefallen waren, hatte ich den nächsten Tag bereits so gut wie vorbereitet. Als ich erwachte, ich hatte mir keinen Wecker gestellt, war es dunkel. Ich nahm eine Dusche, rauchte drei Zigaretten und verließ um Viertel vor neun das Haus. In der Bahnhofsunterwelt lehnte ich mich gut sichtbar an einen der hinter einer Glaswand aufgestellten Stehtische des Café Marché. Ich rauchte, rieb meinen Fuß am Bein des Stehtisches, fingerte Krümel vom beigen Holztisch und
    studierte ausführlich jeden Buchstaben der Neonschrift Stuttgarter Hofbräu. Als ich mich nach etwa zehn Minuten umdrehte, stand der Mann im roten Mantel hinter mir, er trug einen Hut und eine Sonnenbrille. Rühren Sie sich nicht, sagte er, schauen Sie an mir vorbei, unterm Tisch steht ein schwarzer Aktenkoffer, wenn ich gleich fort bin, warten Sie noch zehn Minuten, nehmen den Koffer und gehen nach Hause, die
    Geheimzahl zum Schloss finden Sie im Medienkeller Ihrer Schule, auf der Rückseite des Videofilms The Grapes of Wrath. Dann verschwand er. Ich wartete zehn Minuten, sah währenddessen unruhig vor mich hin und versuchte, mit dem Fuß den Koffer zu ertasten, was mir auch gelang, sodass ich mich nach Ablauf der vorgeschriebenen Zeit elegant und unauffällig bücken konnte, den Koffer nahm und mich ohne mich umzudrehen entfernen wollte. He, rief mir jemand nach, und ich erstarrte. Wollen Sie Ihren Kaffee nicht zahlen?

    17

    In der Nacht konnte ich nicht schlafen. Ich hatte den Koffer lange untersucht und mich vergeblich bemüht, ihn mit einer Nagelfeile und einem Schraubenzieher zu öffnen. Um
    dreiundzwanzig Uhr fünfundvierzig lief im Fernsehen der Film Das Apartment mit Jack Lemmon. Als der kleine Büroangestellte CC Baxter alias Jack Lemmon kurz vor
    Schluss seinem Chef JD Sheldrake, gespielt von Fred
    MacMurray, den Schlüssel zu seinem, Baxters, über Jahre hinweg als Absteige missbrauchten Apartment mit den Worten schon gar nicht mit Miss Kubelik verweigerte und Sheldrake stattdessen in einem Akt der grenzenlosen Verachtung den Schlüssel des Waschraums der Abteilungsleiter auf den
    Schreibtisch warf, was die prompte Kündigung und den
    Abstieg ins Nichts zur Folge hatte, stieg ein dicker Kloß meinen Hals hoch, und als dann in der Schlussszene die wunderbare Miss Kubelik, gespielt von Shirley MacLaine, um Mitternacht, während des Singens von Auld Lang Syne, ihren Geliebten Sheldrake verließ und durch die kalte Silvesternacht ins Apartment zu Baxter lief, als Miss Kubelik im Treppenhaus einen Knall aus Baxters Wohnung hörte und dachte, Baxter hätte sich erschossen, als sie wie wild an der Tür trommelte und Baxter völlig verwundert mit einer soeben geöffneten Sektflasche die Tür aufmachte, als Miss Kubelik Baxters Apartment betrat, ihren Mantel auszog und sich neben Baxter aufs Sofa setzte, als sie das Kartenspiel nahm und mischte, als Baxter die wunderbaren Worte sprach Ich liebe Sie, Miss Kubelik, als Miss Kubelik ihn daraufhin nicht etwa ansah oder seine Liebeserklärung erwiderte, sondern stattdessen den in die Filmgeschichte eingegangenen Schlusssatz sagte Halt den Mund und gib, da konnte ich meine Tränen nicht mehr zurückhalten. Ich lag noch lange wach und malte mir aus, wie ich Höllinger meinen Schlüssel auf den Schreibtisch werfen würde, wusste aber, dass ich es niemals fertig brächte, auf alles zu verzichten und einfach so zu gehen, ohne zu wissen, wohin.
    Am nächsten Morgen nahm ich eigens einen frühen Zug, um dem Mann in der Unterführung zuzuhören. Er spielte immer dasselbe Lied, und ich blickte ihn unverhohlen an. Sah so meine Zukunft aus? dachte ich. Entweder in der Unterführung enden oder aber unter Führung Höllingers und der Weißen weitermachen? Ich riss mich vom Mann am Akkordeon los.
    Nein, dachte ich, ich werde weitermachen, ich werde alles geben. Heute noch, dachte ich, heute noch werde ich Höllinger zwei Schlüssel erbeuten, dann wird er mich von der Liste streichen, und alles wird gut. Wild
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