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Lehrerzimmer

Lehrerzimmer

Titel: Lehrerzimmer
Autoren: Markus Orth
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entschlossen stapfte ich zum Schulgebäude. Zeitgleich trat Herr Krämer aus der
    Tiefgarage, ich sagte, sechs Wochen, ein Tag, er griff sich an den Hut, nickte und fragte mich, ob ich schon wisse, dass Gräulich ein Toupet trage.
    Da ich früh dran war, ging ich sofort in den Medienkeller, den man auch mit dem Schlüssel c6 öffnen konnte. Ich machte Licht, suchte den Videoschrank, er war offen, ich fuhr mit dem Finger die Reihen der Videobänder entlang, konnte aber den gesuchten Film nicht finden. Plötzlich vernahm ich hinter mir ein Geräusch und schnellte herum. Ich hielt den Atem an. Ich schlich an den Schränken mit den altrömischen
    Statuenimitationen vorbei, umkurvte den Parcours der
    Projektoren und Kartenständer, es war niemand zu sehen. Da hörte ich noch einmal ein leichtes Schuffeln. Das kam von unten. Ich bückte mich. Unter dem weißen Tisch an der Wand, da war etwas. Ich hörte ein Husten. Ich sah genauer hin. Ein blauer Knäuel aus Stoff, ein Schlafsack, aus dem, langsam, vorsichtig, tastend, noch ganz verschlafen, mich überhaupt nicht wahrnehmend, das Gesicht von Heiner Stramm erschien, dem Medienwart. Mein Gott, rief ich, was machen Sie denn da? Stramm kroch aus seinem Versteck. Er habe hier
    übernachtet, sagte er, Stramm, Bio, Chemie, Medienwart. Ich: Kranich, Englisch, Deutsch. Da er auf dem Boden hocken blieb, kniete ich mich zu ihm. Warum er hier übernachtet habe? fragte ich ihn. Er… er… und dann brach es plötzlich aus ihm heraus… er wisse nicht mehr weiter, sagte er und legte seinen Kopf in beide Hände, er könne nicht mehr, er halte das nicht mehr aus, das sei unmenschlich, das sei eine Tortur, er habe keine Erklärung dafür, er könne sich nicht vorstellen, wie es dazu gekommen sei, er wisse nicht, wie es weitergehen solle. Ruhig, ruhig, sagte ich und setzte mich auf den Boden.
    Es gibt für alles eine Lösung, Sie können sich vertrauensvoll an mich wenden. Aus den Augenwinkeln hatte ich
    wahrgenommen, dass seine Hose über einer Stuhllehne hing, und – ohne dass er irgendwo befestigt war – ganz allein, blank und bloß, mitten auf dem blauen Stuhlüberzug, lag Stramms Schlüssel, in Reichweite, ich brauchte nur meine Hand
    auszustrecken. Seine Frau habe ihn verlassen, sagte Stramm.
    Besser gesagt, sie habe ihn rausgeschmissen. Seit drei Tagen übernachte er hier. Immer wieder habe er sie bekniet und gebeten, ihn doch ins Haus zu lassen, aber sie sei unnachgiebig geblieben, er habe nichts machen können. Ob sie sich
    gestritten hätten? fragte ich. Nein, sagte Stramm, das sei es ja, es gebe keinen Grund für ihr Handeln, er habe sich ihr gegenüber immer korrekt verhalten, jeden Wunsch habe er ihr erfüllt, alles habe er für sie getan, er könne sich keine Vorwürfe machen. Herr Stramm, sagte ich und rückte ein wenig näher, Sie können ganz offen sein, meistens ist das ja eine, na ja, wie soll ich sagen, eine sexuelle Geschichte, Sie verstehen, was ich meine? Ja, ja, sagte Stramm, aber auch da sei alles im Lot gewesen, er habe kaum eine Nacht
    verstreichen lassen, ohne sich diesbezüglich um seine Frau zu kümmern. Im Gegenteil, wenn er bedenke, wie viel Aufwand und Vorbereitung er gerade in die Nächte gesteckt habe. Nichts habe er in dieser Hinsicht dem Zufall überlassen, gewissenhaft sei er zu ihr ins Schlafzimmer gegangen, in jeden der von ihnen vollzogenen Akte habe er drei, wenn nicht gar vier Methodenwechsel eingebaut. Er habe meist als Einstieg ein Lied verwendet und sich zu seiner Frau gesetzt, dann aber, ehe es hätte langweilig werden können, den Rekorder ausgestellt, um im fragend-entwickelnden Gespräch ihrer Lust auf den Grund zu gehen. Er habe anschließend oft einen klassischen Übungsteil eingebaut, noch ehe aber die Übungsphase sich zu lang hätte hinziehen können, habe er seiner Frau aus einem entsprechenden Buch verschiedene Passagen vorgelesen, um die schon im Entstehen begriffene Stimmung zu verstärken.
    Nie habe er in jenen Stunden auch die Stillarbeitsphase vergessen, während der er seine mit sich selbst beschäftigte Frau beobachtet habe. Jeden ihrer Stöhnlaute, jedes ihrer Koseworte habe er ergebnissichernd an der statt des Spiegels überm Bett hängenden Tafel festgehalten, und später, als seine Frau mit den Tafelanschrieben immer größere Schwierigkeiten bekommen habe, sei er sogar dazu übergegangen, Folien an die Wand des Schlafzimmers zu projizieren, Folien mit für den Sexualakt geeigneten Stellungen, und außerdem habe
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