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Die Staubfee

Die Staubfee

Titel: Die Staubfee
Autoren: Nicole Rensmann
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1.
     
    Meine Zwillingsschwester Lisa und ich spielten – jeder für sich – in unseren Zimmern, als ich eilige Schritte auf dem Korridor hörte. Neugierig ging ich zu meiner geöffneten Tür und lugte hinaus. Zuerst sah ich Lisa, die ebenfalls den Kopf durch den Türspalt schob. Unsere Räume lagen einander gegenüber und so schauten wir uns fragend an, als Mama blitzschnell vorbei lief und im Schlafzimmer am Ende des Flurs verschwand.
    Was war geschehen? Saß eine dicke Spinne in einer Ecke, die sie entfernen wollte? Oder hatte sie einen Blumentopf fallen lassen? Leise schlichen wir hinter unserer Mutter her.
    »Vielleicht steht die Schranktür auf. Du weißt schon, die, hinter der unsere Geschenke sind«, flüsterte Lisa mir zu, stupste mich mit dem Ellebogen in die Seite und grinste.
    Lisa und ich feierten Ende Januar unsere Geburtstage. Und obwohl Weihnachten erst wenige Tage vorüber war, wünschten wir uns noch mehr Spielsachen.
    Mit erwartungsvollen Gesichtern schauten wir durch die Zimmertür nach rechts auf den Schrank. Doch die Türen waren geschlossen.
    Mama kämpfte nicht mit einer Riesenspinne, sie jagte auch nicht auf Knien rutschend nach Silberfischen, sondern saß ruhig auf der Bettkante. Sie musste den Stecker ihrer Nachttischlampe aus der Steckdose gezogen haben, denn das Kabel lag wie ein dicker weißer Wurm mit rundem Gesicht und silbernen Stilaugen auf dem Boden.
    Mama schaute in den dunkelgrünen Lampenschirm und murmelte etwas von Dreck und Sauerei. Ich flüsterte Lisa zu: »Was macht Mama denn da?«
    Lisa zuckte mit den Achseln. Wir schlichen näher heran und reckten unsere Hälse. So riskierten wir einen Blick über Mamas Schultern. Vielleicht saß in der Lampe die dicke Spinne, mit der ich Lisa erschrecken könnte. Sie ekelte sich so sehr davor. Ich unterdrückte ein Kichern - Mama sollte nicht merken, dass wir hinter ihr standen.
    Und dann sah ich es. Ich schaute zu Lisa und wieder zurück in die Lampe und erneut zu Lisa, die mich nun mit großen Augen und offenem Mund anstarrte. Mama griff nach dem Putzlappen, den sie aus der Küche geholt und auf den Boden gelegt hatte. Sie schien nicht zu sehen, was wir entdeckt hatten. Gefährlich nah befand sie sich mit dem Tuch an diesem ... diesem Ding.
    »Nein, Mama! Schau doch!«, schrien Lisa und ich gleichzeitig und hielten Mamas Arm fest.
    Vor Schreck zuckte meine Mutter zusammen. Sie hatte uns zuvor tatsächlich nicht gehört. Doch bevor sie zu schimpfen begann, zeigten wir auf das, was in der Lampe hockte.
    Mama runzelte die Stirn, ging ein Stück näher mit dem Gesicht an die Lampe - und da sah sie es auch. »Ach, du meine Güte. Was ist denn das?«
    Das wussten wir auch nicht, aber es sah zu interessant aus, als es mit einem feuchten Lappen zu zerquetschen. In Gedanken stellte ich mir vor, wie ich es unter das Mikroskop legte und seine Beschaffenheit studierte. Vielleicht könnte ich es auch züchten. Worum auch immer es sich bei dem Ding handelte, es weckte meine Begeisterung. Auch Lisa wirkte aufgeregt. Sie plante sicherlich, dem Vieh Zöpfchen ins Haar zu flechten und ein Glöckchen um den Hals zu hängen. Das durfte ich nicht zulassen.
     
    In der Lampenfassung lag, eingebettet von Tausenden Staubkörnchen, etwas in der Form eines Zeigefinger großen Weizenkorns. Oben befand sich ein runder Kopf mit Augen und einer Nase, die wie schwarze Löcher wirkten. Einen Mund besaß es jedoch nicht. Vom Kopf standen steil graue Haare ab. Auf dem Rücken saß ein Flügel. Das riesengroße Staubkorn verfügte weder über Arme noch Beine.
    Abwartend sahen wir auf das Wesen, das verschreckt in der Nachttischlampe kauerte und auf sein Schicksal wartete. Ich schämte mich für meinen Gedanken, so ängstlich sah es aus. Und ich entschied, das Vieh nicht unter das Mikroskop zu legen, sondern es zuerst in einen Käfig zu stecken und mit Staubbällchen zu füttern.
    Doch es wollte wohl nicht länger darauf warten, von meiner Mutter weggewischt oder von mir als Studienobjekt benutzt zu werden. Mit einem Ruck schwirrte es aus der Lampe heraus. Dabei drehte es den Flügel wie einen Propeller. Die vielen anderen kleinen Staubkörnchen folgten ihm als seien sie der Schweif. Die Staubtiere flohen nicht, sondern blieben ein Stück entfernt in der Luft schweben.
    Meine Mutter starrte das fremde Gebilde ungläubig an. Gespannt warteten wir, was als nächstes geschehen sollte. Aber es passierte nichts. Die Uhr über der Tür schien lauter zu ticken als sonst, so
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