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Grenzen setzen – Grenzen achten

Titel: Grenzen setzen – Grenzen achten
Autoren: Anselm Grün/Ramona Robben
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Einleitung
    In der Begleitung begegnen wir immer wieder dem Thema der Grenze. Es gibt viele Ratsuchende, die darunter leiden, dass sie sich einfach nicht abgrenzen können. Sie können nicht nein sagen, sondern stehen unter dem inneren Druck, alle Wünsche, die an sie herangetragen werden, zu erfüllen. Sie meinen, sie müssten allen möglichen Erwartungen anderer Menschen entsprechen. Sie haben Angst, nein zu sagen, weil sie befürchten, sich sonst nicht mehr zugehörig zu fühlen oder weil sie denken, Ablehnung zu erfahren, wenn sie etwas verweigern. Andere essen grenzenlos: Sie nehmen ihre eigene Grenze nicht wahr. Und sie leiden darunter, dass sie sich selbst keine Grenze setzen können.
    Wieder andere haben die Fähigkeit verloren, sich gegenüber Menschen in ihrer Umgebung abzugrenzen. Ihre Grenzen zerfließen. Sie nehmen sofort wahr, was die anderen fühlen. Aber das ist keineswegs nur positiv. Denn ihre eigenen Gefühle mischen sich ständig mit denen der anderen. Sie sind den Stimmungen ihrer Umgebung ausgesetzt und lassen sich davon bestimmen. Manchmal haben sie sogar den Eindruck, dass sie sich auflösen. So leben sie schutzlos. Wer die Lebensgeschichten solcher Menschen untersucht, merkt bald, dass die Ursachen dafür oft weit zurückliegen. Grenzenlose Menschen haben meist in der Kindheit eine Missachtung ihrer Grenzen erfahren. Solche Erfahrungen sind für die Betroffenen verletzend. Sie tun nicht nur weh, sie haben oft auch problematische Konsequenzen und lang anhaltende Nachwirkungen: Wir brauchen alle unseren Schutzraum. Aber da ist zum Beispiel die Mutter ohne zu klopfen ins Zimmer ihrer Tochter eingetreten, hat in derenAbwesenheit in den Schubladen gekramt oder ihr Tagebuch gelesen. Es zeigt sich immer wieder: Wer in der Kindheit solche Grenzverletzungen erlitten hat, tut sich nicht selten sein Leben lang schwer in seinen Beziehungen. Die Beispiele lassen sich fortsetzen. Was sie alle zeigen: Unser Leben kann nur gelingen, wenn es innerhalb bestimmter Grenzen gelebt wird.

    Wie aber gelingt menschliches Leben einer Person, das ja immer ein Leben in Beziehungen ist? Ohne die Fähigkeit, sich abzugrenzen, kann man seine eigene Person nicht wahrnehmen und sein Personsein nicht entwickeln. Schon ein Blick auf die Wortbedeutung deutet das an: „Person“ heißt ursprünglich „Maske“; das ist etwas, was ich vor mich halte. Durch die Maske hindurch kann ich Kontakt zum anderen aufnehmen. Das lateinische Wort „personare“ heißt „durchtönen“. Durch meine Stimme, durch das Sprechen erreiche ich die andere Person, auf diese Weise geschieht Begegnung. Damit aber Begegnung gelingt, braucht es einen guten Ausgleich von Grenze und Grenzüberschreitung, von Schutz und Sich-Öffnen, von Sich-Abgrenzen und Sich-Hingeben. Ich muss um meine Grenze wissen. Erst dann kann ich sie immer wieder überschreiten, um auf den anderen zuzugehen und ihm zu begegnen, ihn in der Begegnung zu berühren und darin möglicherweise einen Augenblick von Eins-Werden zu erfahren.

    Begegnung geschieht, so gesehen, immer an der Grenze. Ich muss bis an meine Grenze gehen, bis zum Äußersten, das mir möglich ist, um beim anderen anzukommen. Wenn Begegnung gelingt, sind Grenzen nicht mehr starr und trennend. Dann werden Grenzen fließend, dann geschieht an der Grenze und über die Grenze hinweg Eins-Werden. Aber Begegnung ist nichts Statisches, sondern immer etwas, was im lebendigen Vollzug geschieht. Nach der Begegnung geht jeder in seinen Bereich zurück, bereichert von der Erfahrung an der Grenze.

    Der richtige Umgang mit den Grenzen ist für den französischen Schriftsteller Romain Rolland sogar der entscheidende Schlüssel zum Glück, wenn er sagt: „Glück heißt seine Grenzen kennen – und sie lieben.“ Es geht also in seiner Sicht nicht nur um die Kunst, sich abzugrenzen, oder darum, seine Grenzen zu kennen. Wir sollen sie auch lieben. Das heißt nichts anderes als: Wir sollen einverstanden sein mit unserer Begrenztheit, dankbar sein für die Grenzen, die wir an uns und an den andern erfahren. Der Schlüssel zum Glück liegt darin, sich in seiner eigenen Begrenztheit zu lieben und auch die Menschen mit ihren Grenzen zu lieben. Das fällt nicht immer leicht, da wir von uns lieber Bilder von Unbegrenztheit entwickeln. Doch für Romain Rolland gilt es als ausgemacht: Wer sich mit seinen Grenzen aussöhnt und liebevoll mit ihnen umgeht, dessen Leben gelingt, der erfährt Glück.

    Viele Menschen leiden heute an
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