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Lebenslang Ist Nicht Genug

Titel: Lebenslang Ist Nicht Genug
Autoren: Joy Fielding
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ausgestreckte Handfläche erschien.
    »Valium. Nehmen Sie es, das entspannt.«
    Gail nahm die Tabletten. Die Schauspielerin in der weißen
Schwesterntracht zog anscheinend zufrieden ihre Hand zurück und ging nach links von der Bühne ab. Sie stieß mit einem distinguiert wirkenden Schauspieler im weißen Kittel zusammen, der kam, um Gails Puls zu fühlen.
    Gail schloß die Augen. Als sie sie wieder aufschlug, saß Jack neben ihr. Er hatte seine Hand durch die Gitterstäbe vor ihrem Bett geschoben und umklammerte ihre Finger. Sie spürte, wie sehr er sich bemühte, seine Gefühle unter Kontrolle zu bekommen. Doch die Spannung stand ihm ins Gesicht geschrieben. Seine Wangen waren aufgedunsen, seine Augen starrten ins Leere. Auf der fahlen, käsigen Haut leuchteten hektische rote Flecke, die aussahen wie verrutschte Schminke. In unregelmäßigen Stößen durchdrang sein Atem die fast unerträgliche Stille. Qualvolle Sekunden lang hörte sie gar nichts, dann folgte eine Anzahl kurzer, schneller Atemstöße rasch aufeinander, so als müsse er sich immer wieder daran erinnern, Luft zu holen. Er räusperte sich mehrmals mechanisch. Als Gail die Augen lange genug offenzuhalten vermochte, um seinem Blick zu begegnen, da starrte er auf etwas, das nur er zu sehen vermochte. Sie wandte sich ab und ließ den Kopf in die Kissen zurücksinken, aus Angst, womöglich seine Vision zu erraten und sie teilen zu müssen.
    »Jennifer...?« tastete sie sich vor.
    »Ihr geht’s gut. Ihr Vater und Julie kümmern sich um sie.«
    »Hast du mit ihr gesprochen?«
    »Gestern abend und auch heut früh. Heute morgen fühlte sie sich schon besser. Julie hat bei ihr geschlafen.«
    »Das war nett von ihr.« Gails Worte waren ein undeutliches Genuschel. »Julie ist eine nette Frau.« Jack nickte. »Und du, was ist mit dir?«
    »Ich hab’ eine von den Tabletten genommen, die der Arzt mir gegeben hatte. Hat leider nicht viel geholfen. Die ganze Nacht hörte ich Cindy nach mir rufen.«
    »O Gail...«
    »Aber dann muß ich wohl doch für’n paar Minuten eingenickt
sein. Jedenfalls war mir auf einmal, als hätte sie um’n Glas Wasser gebeten. Ich hätte drauf schwören können! Du weißt ja, sie hat nachts oft Durst. Ich stand auf, ging ins Bad, drehte den Wasserhahn auf, und als ich nach einem Glas griff, da fiel mir ein...«
    »Ich hätte bei dir bleiben sollen«, sagte Gail. »Ich hab’ nichts im Krankenhaus verloren. Du brauchst mich. Jennifer braucht mich. Ich muß hier raus.« Gail versuchte sich aufzurichten. Doch Jack legte ihr seine starken Hände auf die Schultern und drückte sie sanft in die Kissen zurück.
    »Du kommst schon früh genug nach Hause. Laß dir noch ᾽nen Tag Zeit. Du mußt erst wieder zu Kräften kommen.«
    »Zu Kräften«, wiederholte Gail mechanisch und versuchte, den Sinn der Worte zu erfassen. »Jedesmal, wenn mein Kopf klar wird, steht schon jemand bereit, um mir noch ᾽ne Spritze zu verpassen oder mir’ne Tablette zu geben. Sie reden mir ein, das Zeug würde mir helfen, mich zu entspannen, mich besser zu fühlen. Aber das stimmt nicht. Medikamente ändern gar nichts. Sie zögern das Unvermeidliche bloß hinaus. Sie machen’s den Ärzten und Schwestern leichter, aber nicht mir , auch wenn die Leute sich einbilden, mir zu helfen.« Sie machte eine Pause. Als sie weitersprach, war ihre Stimme nur noch ein Flüstern. »Weißt du, was ich mir die ganze Zeit wünsche?«
    »Was denn?«
    »Jedesmal, wenn ein Arzt mit ᾽ner neuen Spritze rein kommt, hoffe ich auf einen Fehler im Labor, ein vertauschtes Medikament, eine falsche Dosis. Das kommt vor, weißt du, auch Ärzten unterlaufen Fehler... Bei jeder Spritze hoffe ich, daß es die letzte ist...«
    »Gail!«
    »Entschuldige.« Gail sah die Angst in den Augen ihres Mannes. »Das hätte ich nicht sagen dürfen. Es war nicht fair dir gegenüber.«
    »Ich liebe dich, Gail.«
    »Weißt du, was Cindy mich mal gefragt hat? Das ist ungefähr
einen Monat her. Sie sagte: ›Mami, wenn wir sterben, können wir’s dann zusammen tun?‹ Aus heiterem Himmel. Einfach so. >Mami, wenn wir sterben, können wir’s dann zusammen tun?< Was hätte ich ihr antworten sollen? Ich hab’ >ja< gesagt. Und dann fragte sie weiter: >Hältst du mich dabei an der Hand?< Und ich hab’ wieder >ja< gesagt. Und sie fragte: >Versprichst du’s mir?<« Gail schwieg eine Weile. »Ich hab’s ihr versprochen. O Gott, Jack!« Ihr Oberkörper wiegte sich hin und her.
    Gail hörte in der Ferne Sirenen
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