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Lebenslang Ist Nicht Genug

Titel: Lebenslang Ist Nicht Genug
Autoren: Joy Fielding
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gellte durchs Zimmer: »Wo ist sie?«
    »Sie ist nicht heimgekommen.« Jennifer weinte hilflos. »Ich bin von der Schule gleich nach Haus gegangen, so wie du’s gesagt hast. Ich hab’ hier auf sie gewartet, aber sie kam nicht. Da hab’ ich bei Mrs. Hewitt angerufen und gefragt, ob Linda schon daheim sei. Das Kindermädchen war dran. Sie sagte, Linda sei’s in der Schule schlecht geworden, und sie habe sie schon früher abholen müssen. Sie habe versucht, dich anzurufen, aber bei uns habe sich keiner gemeldet.«
    »Sie muß sich verlaufen haben«, stieß Gail hervor. Sie verdrängte die Erkenntnis, daß es in ihrem Haus nicht vor Polizisten wimmeln würde, wenn ihre kleine Tochter sich bloß auf dem Heimweg verirrt hätte. »Sie ist sonst nie allein nach Haus gekommen. Ich hätte ihr das nicht erlaubt.«
    »Mrs. Walton«, sagte der Mann neben ihr leise, »können Sie uns beschreiben, was Ihre Tochter anhatte, als sie heute morgen zur Schule ging?«
    Gails Blick wanderte unruhig durchs Zimmer, während sie fieberhaft überlegte, was Cindy heute früh angezogen hatte. Sie sah nur das dunkelblonde Haar vor sich, das dem Kind über die Stirn und bis in die Augen hing. Sie hatte sich vorgenommen, den Pony zu schneiden, ehe er so lang wurde, daß Cindy nicht mehr richtig sehen konnte. Sie sah die lachenden blauen Augen, die zarte, feingeschwungene Wangenlinie, die anstelle der Pausbakken getreten war, und den kleinen, vollen Mund, in dem die beiden
unteren Vorderzähne fehlten. Das purpurrote Samtkleid war mindestens eine Nummer zu klein. »Sie trug ein rotes Samtkleid, vorn mit Smokarbeit verziert und mit’nem weißen Spitzenkrägelchen. Ich hab’ ihr gesagt, es sei zu klein, und außerdem sei’s heute zu warm für Samt, aber wenn sie sich was in den Kopf gesetzt hat, ist alles Reden zwecklos. Also hab’ ich nachgegeben und sie das Kleid anziehen lassen.« Sie stockte. Warum hatte sie den Polizisten das alles erzählt? Sie konnte an ihrem Gesichtsausdruck ablesen, daß sie sich nicht dafür interessierten, ob Cindy der Witterung gemäß angezogen war oder nicht. »Sie trug weiße Kniestrümpfe und rote Schuhe«, fuhr Gail fort. »Ihre Sonntagsschuhe. Sie mochte weder Ballerinas noch welche zum Schnüren. Nur Schnallenschuhe. Sie trug auch nie Hosen, sondern immer Kleider und Röcke. Sie war ein sehr weibliches kleines Mädchen.« Gail hielt sich den Mund zu vor Schreck über das, was sie gerade gesagt hatte. Sie war ein sehr weibliches kleines Mädchen. Sie hatte über ihre Tochter in der Vergangenheitsform gesprochen. »O mein Gott!« Sie stöhnte, sank in die Kissen zurück und wünschte, das alles wäre nur ein Traum. »Wo ist mein Kind?« Ihre Stimme war kaum verständlich und schien von weit her zu kommen.
    Die Haustür wurde geöffnet, und plötzlich war Jack neben ihr, nahm sie in die Arme und streifte mit den Lippen ihre Wange. »Weiß man schon Genaueres?« fragte er.
    »Worüber?«
    Der Beamte, der sie hereingeführt hatte, setzte sich jetzt auf einen Stuhl ihr gegenüber. Gail blickte ihm ins Gesicht, und es überraschte sie, wie jung er war. »Vor etwa einer halben Stunde wurde die Leiche eines Kindes gefunden. Und zwar in den Anlagen bei der Riker-Hill-Schule.« Er bemühte sich um einen neutralen Ton. »Ein paar Jungs haben sie auf dem Heimweg nach der Schule entdeckt. Sie nehmen jeden Nachmittag die Abkürzung durch den Park. Heute hörten sie merkwürdige Geräusche aus einem Gebüsch. Dann sahen sie jemanden davonrennen. Sie
schauten nach und stießen auf die Leiche des Mädchens.« Er hielt inne, so als erwarte er, Gail würde etwas sagen. Aber sie schwieg, den Blick starr auf den sandfarbenen Webteppich zu ihren Füßen gerichtet. »Grade als wir die Unglücksstelle erreichten, kam Ihre Tochter die Straße runtergelaufen. Sie suchte ihre kleine Schwester. Wir haben sie nach Hause gebracht und Ihren Mann angerufen. Sie konnten wir ja nicht erreichen.« Er stockte wieder. »Wir wissen nicht genau, ob’s Ihre Tochter ist, Mrs. Walton. Wir wollten es Jennifer nicht zumuten, die Leiche zu identifizieren...«
    Gail hörte Jennifer schluchzen, streckte die Arme aus, zog das zitternde Mädchen an sich und wiegte sie auf ihrem Schoß wie ein Baby.
    »Wo ist das Kind... die Leiche?« korrigierte Jack sich hastig. Gail spürte die Spannung in seiner Stimme und wußte, daß er seine Angst vor ihr und ihrer Tochter zu verbergen suchte.
    »Unten auf’m Revier«, antwortete der Beamte. »Wir möchten Sie
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