Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wölfe und Kojoten

Wölfe und Kojoten

Titel: Wölfe und Kojoten
Autoren: Marcia Muller
Vom Netzwerk:
Donnerstag, 10. Juni
     
    Die Mesa war die trostloseste Gegend,
die ich je gesehen hatte.
    Ich stieg aus dem Scout und folgte
meinem Führer über den steinigen Boden, auf dem nichts wuchs außer Büffelgras
und dem stacheligen Cholla-Kaktus. Der Morgen war wolkenverhangen, die Luft
salzig-feucht — ein Hundewetter. Von der flachen, grauen See her blies ein
scharfer, eisiger Wind herauf.
    Vor uns fiel das Gelände ab und ging in
flaches Weideland über, so weit das Auge reichte. Hier stand die verfallene
Lehmhütte. Ein paar Meter davor blieb Andrés, der mich geführt hatte, stehen
und wartete auf mich. »Da ist es passiert«, sagte er mit gedämpfter Stimme.
    Ich sah zur Hütte hinüber, doch ich
spürte nichts. Ich sah bloß ein verfallendes Relikt aus einer vergangenen Zeit,
das aus Erde gemacht war und nun wieder zu Erde wurde. Ich ging vor und drehte
mich nach meinem Begleiter um. Er war mit verschränkten Armen stehengeblieben
und starrte entschlossen auf den Pazifik hinaus. Abergläubisch, dachte ich, und
trat allein näher.
    Das Dach der Hütte war eingestürzt, und
zwei Mauern lehnten in einem merkwürdigen Winkel aneinander. Durch eine
Öffnung, in der früher einmal die Tür gewesen sein mußte, betrat ich den Boden
aus festgestampfter Erde. Ziegel lagen herum, und in den Ecken hatte sich
Abfall angesammelt. Rauch hatte den fahlen Lehm geschwärzt.
    Ich spürte noch immer nichts. Noch
immer kein Gefühl des Verlusts, der Trauer oder des Grauens — auch keine der
Schockwellen, die mich jedesmal angesichts eines gewaltsamen Todes erfassen.
Dabei hätte mich das, was hier geschehen war, tiefer treffen müssen als alles
andere.
    Was ist los mit dir? fragte ich mich.
Deine Tränen können doch nicht schon nach einer einzigen Nacht versiegt sein.
    Ein paar Minuten lang stand ich still
da und wartete — wartete auf irgend etwas. Ich wollte meine Gefühle wieder
spüren können. Doch ich wußte nicht, wie ich das hätte bewirken können, also
ging ich wieder hinaus. Mit einem Bein meiner Jeans war ich an etwas hängengeblieben.
Ein winziges, verdorrtes Bäumchen. Das bedauernswerte Ding hatte keine
Überlebenschance gehabt auf diesem unwirtlichen Boden. In seinen brüchigen
Zweigen hatten sich ein paar Papierfetzen verfangen. Ich streifte sie ab. Ruhe
in Frieden.
    An einem der Fetzen blieb mein Blick
plötzlich hängen. Ich hob ihn auf und strich ihn glatt: US-Justizministerium,
Abteilung für Einwanderung und Einbürgerung, Eidesstattliche Versicherung. Das
Formular, das illegalen Einwanderern von den Grenzpatrouillen ausgehändigt
wird, war achtlos weggeworfen worden. Wieder war ein Versuch, über die Grenze
zu kommen und die wilden Cañons mit den Klapperschlangen, Skorpionen und
Banditen zu durchqueren, gescheitert. Aber was machte das schon? Der Illegale —
in diesem Fall eine Frau namens Maria Torres — würde bald wieder da sein, und
weitere würden folgen, ein endloser Strom. Ich ließ das Papier fallen.
    Dann kehrte ich der Hütte, in der so
vieles zu Ende gegangen war, den Rücken und ging zum Rand der Mesa vor. Von
hier aus waren in der Ferne rechts die Wolkenkratzer von San Diego zu erkennen
und davor das verödete Flußbett des Tijuana. Der Fluß selbst war schon vor
langer Zeit aus seinem ursprünglichen Bett abgeleitet worden und schlängelte
sich nun hier mit den giftigen Abwässern aus Mexiko westwärts. Direkt vor mir
mündete er in den bleigrauen Pazifik. Links erstreckte sich Baja California.
Eine Hubschrauber-Grenzpatrouille knatterte über mich hinweg.
    Ich sah nach Süden. Auf dem
mautpflichtigen Freeway rollte der Verkehr von der Grenze, hinter der die
pastellfarbenen Häuser von Tijuana mit ihren Blech- und Ziegeldächern lagen,
fort. Am Rand der Stadt erstreckte sich einsam die berühmte Stierkampfarena.
Sie glich einer riesigen Satellitenschüssel, die ganz Baja versorgen könnte.
Ich starrte auf den Grenzzaun aus schwarzen Stahlplatten, der sich über den
zerklüfteten Hügelkamm zog. Er erinnerte mich an Kranzschleifen aus schwarzem
Satin, wie man sie von Trauerkränzen kennt. Ich blieb lange dort stehen, nahm
die Umgebung in mich auf und überließ mich meinen Gedanken. Die Redensart »Such
dir aus, was du davon gebrauchen kannst« fiel mir ein. Plötzlich wurde der
träge Fluß meiner Gedanken zu einem reißenden Strom, der unaufhaltsam einer
ganz offensichtlichen Schlußfolgerung entgegentrieb. Als meine Gefühle endlich
zurückkehrten, waren es andere als die, die ich
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher