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Lebenslang Ist Nicht Genug

Titel: Lebenslang Ist Nicht Genug
Autoren: Joy Fielding
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bitten, mitzukommen, und wenn möglich die Leiche zu identifizieren.«
    Gail blickte ihn an und wunderte sich, daß Polizisten tatsächlich Dinge sagten wie »unten auf’m Revier«.
    »Aber Sie sind nicht sicher, daß es Cindy ist?« Jacks Worte klangen mehr wie eine Feststellung als eine Frage.
    Gail beeilte sich, ihm beizuspringen. »Bloß weil sie verschwunden ist, weil sie sich auf dem Heimweg verlaufen hat, muß doch die Leiche, die Sie gefunden haben, nicht...« Sie brach ab. Das Sprechen schmerzte zu sehr, es war, als stieße ihr jemand ein Messer in die Brust.
    »Wie wurde dieses kleine Mädchen umgebracht?« fragte Jack.
    Gail versuchte vergeblich, die Antwort nicht zu hören.
    »Sieht aus, als habe man sie erwürgt. Möglicherweise wurde sie vorher sexuell mißbraucht.« Der Beamte senkte die Stimme, so als merke er, daß seine Sprache zu klinisch wirkte. »Das können
wir natürlich erst mit Bestimmtheit sagen, wenn alle Untersuchungen durchgeführt sind.«
    Gail schüttelte den Kopf. »Die armen Eltern!« Sie spürte, wie die Tränen, die in ihren Augen brannten, ihr über die Wangen liefen. »Wie furchtbar für sie, wenn sie erfahren, was mit ihrer Tochter geschehen ist. Was für ein schreckliches Unglück!«
    »Mrs. Walton!« Die Stimme kam von weit her. »Mrs. Walton.« Mit jeder Nennung ihres Namens entfernte die Stimme sich weiter, bis sie nicht mehr aus demselben Raum zu kommen schien. Es war, als berühre die Hand auf ihrem Arm jemand anderen. »Mrs. Walton«, sagte die Stimme wieder, aber Gail konnte sie kaum noch hören, weil der plötzlich aufbrandende Lärm in ihrem Kopf sie übertönte. »Erkennen Sie das wieder?« fragte die Stimme. Die Hand zwang sie, etwas anzuschauen, das sie nicht sehen wollte, etwas, wovon sie schon vorhin, als ihr Mann das Zimmer betreten hatte, einen flüchtigen Blick erhascht, das wahrzunehmen ihr Gehirn sich jedoch geweigert hatte.
    »O mein Gott«, flüsterte Jack und vergrub das Gesicht in den Händen. Seine Schultern zuckten unter dem Schmerz, den er nicht länger zu verbergen suchte.
    Gail spürte, wie Jennifers Kopf sich fester an ihre Brust preßte, während sie selbst wie magisch angezogen wurde von der ausgestreckten Hand des Polizisten, die das schlammbespritzte rote Samtkleid emporhielt. Sie versuchte zu sprechen, aber sobald sie ein Wort formte, schoß wieder dieser brennende Schmerz durch ihren Körper, und es kam ihr vor, als werde das unsichtbare Messer tiefer in ihren Körper gestoßen. Sie blickte an sich hinunter und sah das Messer ihren Leib durchtrennen, wie ein Reißverschluß, der eine Jacke öffnet. Sie beobachtete, wie die Innereien herausquollen, und wartete ungeduldig auf ihr Ende. Aber sie wurde bloß ohnmächtig. Als sie wieder zu sich kam, erlangte sie das Bewußtsein nur für einen Augenblick. Dann gab der Arzt ihr ein Beruhigungsmittel.

3
    Die nächsten Tage wanderten an Gails umnebeltem Geist vorbei wie Szenen aus einem Theaterstück während der ersten Kostümproben, bei denen die Markierungen noch nicht genau stimmen und die Schauspieler den Text noch nicht einwandfrei beherrschen.
    Schauplatz der Handlung war ein kleines Zimmer auf der Privatstation des St.-Barnabas-Krankenhauses. Die cremefarbenen Wände waren mit hübschen Drucken geschmückt. Ein großer Blumenstrauß prangte auf dem Fensterbrett. In der Mitte der Bühne stand ein modernes Klinikbett. Die gestärkten weißen Laken und die sorgfältig aufgeschüttelten Kissen setzten zwar einen etwas strengen Akzent, kreierten jedoch genau die richtige Atmosphäre. Mehrere Schauspieler in Arztkitteln und Schwesternuniformen machten viel Aufhebens um die Hauptperson im Bett. Sie wischten ihr den Schweiß von der Stirn, kontrollierten die Temperatur, setzten Spritzen oder gaben ihr Tabletten. Sie landeten immer wieder einen Versprecher, wenn sie ihre Beileids- oder Trosttexte hersagten, konnten manchmal ihre Tränen nicht zurückhalten und mußten sich für eine Weile in die Kulisse zurückziehen, ehe sie von neuem geschäftig über die Bühne eilten.
    Ihr galt all diese Aufmerksamkeit. Sie war die zweite Besetzung, die widerstrebend für die Hauptdarstellerin hatte einspringen müssen. Sie war völlig unvorbereitet auf diese Rolle, eingeschüchtert von ihrem neuen Rang und sprachlos, obwohl sie anscheinend den besten Text hatte und alle anderen nur darauf zu warten schienen, daß sie das Stichwort gab.
    »Was ist das?« stammelte sie mühsam, als vor ihren Augen plötzlich eine
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