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Lebenslang Ist Nicht Genug

Titel: Lebenslang Ist Nicht Genug
Autoren: Joy Fielding
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vor wie eine Ewigkeit, bis seine Augen den ihren gestanden, was seine Zunge leugnete, daß er ihr Kind vergewaltigt und umgebracht
hatte, daß er ihr Töchterchen ins Gebüsch gezerrt, sie bewußtlos geschlagen und ihr die Kleider vom Leib gerissen hatte, daß er brutal in sie eingedrungen war, ehe seine Finger sich um ihren zarten, kleinen Hals schlossen.
    Ich bin der Mann, nach dem du gesucht hast, sagte er wortlos zu ihr - der Mann im Buchladen, im Leihhaus, im dunklen Gang. Der Mann auf dem Highway, der Mann auf der Straße. In deinem Alptraum siehst du mein Gesicht, in diesem Alptraum, der um genau siebzehn Minuten nach vier an einem ungewöhnlich warmen und sonnigen 30. April begann, dem Alptraum, der einen Anfang hat, aber kein Ende.
    Man sollte das Schwein erschießen , hörte sie ihren Vater sagen.
    Mami, wenn wir sterben, können wir’s dann zusammen tun? Hältst du mich dabei an der Hand? Versprichst du’s mir?
    Gail dachte an ihr früheres Leben - an die Unbeschwertheit, mit der sie jeden neuen Tag begrüßt hatte, an die vertrauten Werte, mit denen sie am Morgen erwacht, und an die schlichten Ideale, mit denen sie des Abends zu Bett gegangen war. Alles dahin. Dieser eine Nachmittag hatte ihre Unschuld zerstört, und sie war für immer verloren.
    Wie weit sie sich doch von ihrem ursprünglichen Wesen entfernt hatte. Der Spiegel zeigte ihr nicht mehr das Gesicht einer Durchschnittsamerikanerin. Wie sehr unterschied sie sich heute von ihrem früheren Selbst.
    Und auf einmal wußte Gail, was in diesen letzten Monaten in ihrem Leben gefehlt hatte - all das, was dieser Mann ihr an jenem Aprilnachmittag geraubt hatte, und alles, was sie sich von ihm hatte nehmen lassen.
    Der Gedanke an ihn hatte ihre Tage ausgefüllt und ihre Träume beherrscht. Wohin sie auch ging, er war immer bei ihr, lenkte jeden ihrer Schritte, schlich sich in ihre Gedanken ein wie der Geruch eines starken, unerwünschten Parfums, ließ ihr kaum Luft zum Atmen. Sie war die Gefangene. Sie hatte einem
Fremden, der im Gebüsch lauerte, die Herrschaft über ihr Leben abgetreten.
    Gail sah, wie Dean Majors’ Lippen sich zu jener seltsamen Andeutung eines Lächelns kräuselten, das man beinahe ölig hätte nennen können. Aber jetzt, sagte sie zu ihm, während das Lächeln sich fast unmerklich auf ihre Lippen übertrug, jetzt will ich diese Herrschaft zurück.
    Das Lächeln breitete sich über ihr ganzes Gesicht, während sie die lang entbehrte Kontrolle zurückgewann, so deutlich spürbar, so greifbar wie der Revolver, der plötzlich aus ihrer Tasche in ihre Hand geraten war. Man sollte das Schwein erschießen, wiederholte eine Stimme, aber diesmal war es nicht die ihres Vaters, sondern ihre eigene.
    Vom ersten Schuß bis zu dem Augenblick, als Dean Majors von fünf Kugeln getroffen tot zu Boden sank und jemand ihr die Waffe aus der Hand nahm, bevor sie ein weiteres Mal abdrücken konnte, spürte Gail nur diese wiedergewonnene Herrschaft über sich und ihr Leben.
    Ganz allmählich drang auch die Außenwelt wieder in ihr Bewußtsein - sie hörte Geräusche, Stimmen, eilende Schritte. Viele Hände hielten sie fest, obgleich sie gar nicht den Versuch machte, sich zu rühren. Sie sah die Leute zusammenlaufen, die ihre Neugier befriedigen wollten, beobachtete die allgegenwärtigen Kameras, die Sinn in das Unfaßbare zu bringen suchten, hörte Schreie wie »Mein Gott!« und »Er ist tot!« die Stimmen übertönen, die an die Menge appellierten, Platz zu machen.
    Gail wunderte sich still über das, was sie getan hatte. Ihr Blick hing an den Augen ihres Mannes. Sie fragte sich, was wohl mit ihr geschehen werde. Vielleicht würde eine Geschworenenversammlung sie zum Tode verurteilen, als Warnung für andere, nicht zu weit von der Herde fortzulaufen. Sollte es so kommen, war sie bereit, sich zu beugen.
    Und dann hörte sie es, ein anderes Geräusch, das ihr verkündete, sie habe sich vielleicht doch nicht gar so weit von der Herde
entfernt. Gail warf den Kopf zurück, sog den Klang auf und ließ sich von ihm einhüllen. Er schwoll an, breitete sich aus wie ein Feuer im trockenen Unterholz, bis er den ganzen Gerichtssaal erfüllte.
    Rauschender Beifall.

Die Originalausgabe erschien 1984 unter dem Titel
»Life Penalty«
bei Doubleday, New York
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
    23. Auflage
Taschenbuchausgabe Mai 1996
    Copyright © der Originalausgabe 1984 by Joy Fielding, Inc.
    Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe
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