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Lebenslang Ist Nicht Genug

Titel: Lebenslang Ist Nicht Genug
Autoren: Joy Fielding
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dachte sie einmal, noch in der Anfangsphase des Prozesses. Wenn der Richter ihnen juristische Details erklärte, wurden sie spürbar nervös und schienen zu befürchten, sie könnten einen entscheidenden Punkt nicht verstehen.
    Den Ausführungen der Gutachter folgten sie je nach Thema gelangweilt oder voller Entsetzen. Eine Frau weinte, als Fotos des toten Kindes herumgereicht wurden. Gail studierte alle zwölf Gesichter so gespannt, wie die Geschworenen gemeinsam in den Zügen des Angeklagten forschten. Sie versuchte, in ihre Gedanken einzudringen, ihre Reaktionen zu erraten, aber es gelang
ihr nicht, hinter die höfliche Fassade zu blicken, die sie zur Schau trugen. Sie war ebensowenig in der Lage, sich ein Urteil darüber zu bilden, ob diese zwölf Menschen das Ausmaß der Tragödie ermessen konnten, mit der sie hier konfrontiert wurden.
    Gail lauschte aufmerksam den Aussagen aller Zeugen der Anklage und zwang sich, jedes grauenhafte Detail anzuhören, widerstand dem Drang, ihre Ohren vor dem zu verschließen, was sie nicht noch einmal durchleiden wollte. Sie zergliederte Satz für Satz, als handele es sich um eine grammatische Übung. Ein Polizeibeamter beschrieb die Szene am Tatort, die beiden Jungen schilderten ihre verschwommenen Erinnerungen an den Mann, den sie hatten fliehen sehen, und der Coroner faßte die unwiderlegbaren Ergebnisse der gerichtsmedizinischen Untersuchung zusammen. Sie hörte Lieutenant Coles sichere, kräftige Stimme von dem Fund berichten, den seine Leute in Dean Majors Zimmer gemacht hatten. Gail erkannte, daß die Staatsanwaltschaft einen unangreifbaren Fall aufbaute.
    Besondere Beachtung schenkte sie Bill Pickering, dem Denunzianten; ein Blick zur Geschworenenbank belehrte sie, daß sein verschlagenes Gesicht ihnen ebensowenig gefiel wie ihr. Er wirkte arrogant und gemein. In einem mißlungenen Versuch, den Regeln der Schicklichkeit Rechnung zu tragen, hatte er sich in einen Anzug gezwängt. Leicht fiel ihm diese selbstauferlegte Pflichtübung offenbar nicht, denn er schwitzte und zupfte dauernd unbehaglich an Kragen und Manschetten. Die Verteidigung betonte, daß es sich bei diesem Zeugen um einen ehemaligen Häftling handele, und versuchte ihn als Spitzel abzustempeln, dem es nur darauf ankomme, die eigene Haut zu retten. Er hatte die Polizei erst dann über Majors unterrichtet, als er sich davon einen Vorteil versprechen durfte. War es nicht möglich, gab der Verteidiger zu bedenken, daß Pickering das Belastungsmaterial in Majors’ Zimmer geschmuggelt hatte? Immer wieder wies der Anwalt während Pickerings Vernehmung auf die Eventualität
hin; beharrlich ritt er darauf herum, daß dieser Zeuge nicht vertrauenswürdig sei und berechtigte Zweifel an der Wahrheit seiner Aussage beständen. Darüber vergaß er, die für seinen Mandanten höchst ungünstigen Ergebnisse des gerichtsmedizinischen Gutachtens auch nur zu erwähnen.
    Dean Majors saß neben seinem Anwalt, ohne sich zu regen und ohne etwas zu sagen, so wie er es vom ersten Prozeßtag an gehalten hatte. Gail hatte sich oft gefragt, was sie empfinden würde, wenn sie ihm zum erstenmal gegenüberstände. Er war ein seltsamer Mensch, bleich, mit Nägeln, die bis aufs Fleisch abgekaut waren. Anscheinend fühlte er sich nicht wohl in seiner Haut, denn er wandte immerzu den Kopf ruhelos von einer Seite zur anderen, und doch wirkte er irgendwie herausfordernd.
    Gail haßte ihn vom ersten Augenblick an. Konnte er ihren Abscheu spüren? Dreh dich um, befahl sie ihm stumm. Sieh mich an. Aber sein Blick begegnete dem ihren nie. Jedesmal, wenn sie glaubte, er würde sie anschauen, wandte er sich im letzten Moment ab.
    Die Verteidigung hatte keine Zeugen geladen. Auch der Angeklagte wurde nicht aufgerufen. Sein Anwalt beharrte im Schlußplädoyer beredt auf seinen berechtigten Zweifeln. Aber in Wahrheit gab es keine Zweifel. Die Geschworenen berieten nur knapp eine Stunde, ehe sie Dean Majors schuldig sprachen.
    Gail sank Jack in die Arme und weinte, während man sie von allen Seiten mit Glückwünschen überhäufte. Sie schaute auf, als Majors hinausgeführt wurde. Ihre Blicke trafen sich fast zufällig, und er begegnete dem ihren wie ein Gefangener, der wehrlos in der Falle sitzt. Die Kraft ihrer Empfindungen bannte ihn.
    Die Menge im Gerichtssaal schien verschwunden. Nur sie beide waren übrig, traten einander so offen entgegen, daß zwischen ihnen nur die Wahrheit Platz hatte.
    Die Szene dauerte nur wenige Sekunden, aber ihr kam es
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