Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Melvin, mein Hund und die russischen Gurken

Melvin, mein Hund und die russischen Gurken

Titel: Melvin, mein Hund und die russischen Gurken
Autoren: Marlene Roeder
Vom Netzwerk:
SCHIFFE
    Ich sollte aufhören, Fisch zu essen. Dann würde ich jetzt nicht an dieser dämlichen Theke anstehen und so tun, als hätte ich dich nicht bemerkt.
    Wie lange ist es jetzt her? Acht Monate, neun? Die Linie deines Nackens. Deine Hände. Du bist der einzige Mensch, den ich kenne, der die Texte auf den Rückseiten von Verpackungen liest.
    Du hast mich auch gesehen. Ich beobachte aus den Augenwinkeln, wie du zu mir rüberguckst. Ein kurzes Zögern. Dann kommst du geradewegs auf mich zu, den Kopf erhoben. Ich bin der Dritte in der Schlange an der Fischtheke. Mein Herz klopft, meine Hände sind feucht. Die toten Fische riechen nach Meer.
    »Hallo, Noah«, sagst du.
    »Hallo, Sarah«, sage ich und dann ist da diese Stille. Nur durchbrochen vom tiefgekühlten Geklimper der Supermarktmusik.
    Vielleicht denkst du auch an das Ferienhaus auf der Insel. Fährst du immer noch hin?
    »Ist das nicht langweilig, jeden Sommer am selben Ort?«, habe ich dich damals gefragt.
    Aber du hast gelächelt. »Nein. Es ist wie nach Hause kommen. Außerdem ist ja Jill da.«
    Manchmal ist deine Cousine mitgekommen, wenn wir an den Strand gegangen sind. Jill hat es gemocht, ganz nahe an der Wasserlinie entlangzulaufen und im letzten Augenblick wegzuhüpfen, wenn die Wellen gekommen sind. Du hast den warmen Sand unter deinen Füßen gemocht.
    Aber meistens sind wir zu zweit gewesen, wenn wir auf die Suche nach Strandgut gegangen sind: milchig geschliffene Glasscherben, verlassene Häuser von Einsiedlerkrebsen.
    Einmal hast du ein Stück altes Fischernetz gefunden. Du hast es hochgehoben, durchgeguckt. »Hey, Noah-Fisch!«, hast du gesagt und gelacht. »Ich hab dich gefangen.«
    Das Netz hat Schattenrauten auf dein Gesicht gezeichnet. Die kleine weiße Narbe an deinem Kinn. Ich habe jede Raute, jeden Quadratzentimeter von dir gekannt damals.
    Inzwischen trägst du dein rotbraunes Haar kürzer. Es gefällt mir nicht, es ist nicht mehr meins.
    Wir stehen jetzt zusammen an. Ich bin in der Schlange vorgerückt, nur noch ein alter Mann ist vor mir. Ich kann die Fische hinter der Glasscheibe der Theke sehen, gebettet zwischen Eiswürfeln. Ihre Augen sind blind.
    Sind die Fensterbänke eures Ferienhauses immer noch mit Schiffen vollgestellt? Du hast sie mit deiner Familie gebaut. Und fünf sind von uns gewesen.
    Fünf Schiffe in zwei Sommern.
    Das Schönste hatte einen vergessenen Schuh mit angeklebten Muscheln als Rumpf. Ein Stück Fischernetz als Segel. Zwei bemalte Korken als Passagiere.
    »Wir beide«, hast du gesagt.
    »Komm, wir probieren es aus und lassen es auf dem Meer schwimmen«, habe ich vorgeschlagen.
    Diese kleine Falte ist zwischen deinen Augenbrauen erschienen. »Ach, lass mal. Wär doch schade, wenn es umkippt und sinkt.«
    Ich habe etwas sagen wollen, doch nicht gewusst, was. Also habe ich nur die Achseln gezuckt und zum Fenster rausgeguckt. Draußen hat Jill auf einem Handtuch in der Sonne gelegen. Ihre Hände sind langsam über ihre gebräunte Haut gewandert, während sie sich die Beine eingecremt hat.
    »Wie geht es dir?«, frage ich. Mir fällt nichts Besseres ein.
    »Oh, ganz gut.« Du lächelst. Ich weiß nicht, ob es Glück ist oder etwas anderes. »Ich bin jetzt seit einem halben Jahr wieder mit jemandem zusammen. Er heißt Jörg.«
    »Schön«, sage ich, »schön für dich«, und würde am liebsten nach Jill fragen. Nur um dein Gesicht zu sehen. Aber dann lasse ich es, weil ich weiß, dass ich mir mies vorkommen würde.
    »Und bei dir so?«, fragst du.
    Die Antwort bleibt mir erspart.
    »Ja, bitte?« Die Frau hinter der Fischtheke sieht mich ungeduldig an. Sie trägt Plastikhandschuhe, keimfrei. Mir ist entfallen, was ich kaufen wollte, also zeige ich auf den nächstbesten Fisch. Er ist braun und sieht aus wie ein Tiefseemonster.
    »Seeteufel?«, fragt die Fischfrau.
    »Ja.«
    Jörg heißt er also. Ich frage mich, ob er auch Schiffe mit dir baut und ob du ihm unsere gezeigt hast. Die gehen ihn nichts an. Schließlich sind es auch meine. Soll er eigene bauen, falls du ihn dazu kriegst.
    »Neununddreißig Euro sechzig«, sagt die Fischfrau und verpackt den Fisch, den ich mir eigentlich gar nicht leisten kann, sorgfältig in eine Plastiktüte.
    Ich zahle, du stehst daneben.
    »War nett, dich mal wiederzusehen, Noah«, sagst du.
    »Ja«, antworte ich. »Also dann … ich muss jetzt mal wieder.«
    Du nickst. »Ja, klar. Tschüss.«
    Ich gehe. Ich gehe und nach fünf Schritten ruft mir die Fischfrau nach, dass ich meinen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher