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Leben ist kurz, iss den Nachtisch zuerst

Titel: Leben ist kurz, iss den Nachtisch zuerst
Autoren: W Mass
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Hohlraum dazwischen gefallen. Eines Tages, Jahre später, wird vielleicht jemand die Zettel finden und sich fragen, wer wir waren. Jetzt verwenden wir nur noch Blätter aus Schulheften, der Länge nach zusammengerollt, damit sie über die gesamte Entfernung reichen.
    In der Papierrolle stecken zwei Fruchtgummis. Wassermelone, mein Lieblingsgeschmack. Ich schiebe sie mir in den Mund und lese die Nachricht:
    Viel Glück! Falls du bestraft wirst, es gibt noch mehr von diesen Dingern.
    So kümmern Lizzy und ich uns umeinander.
    Ich kritzle ein fettes DANKE unten auf den Zettel, schiebe ihn durch das Loch zurück, bis ich sehe, dass er die Wand auf Lizzys Seite erreicht hat, und klopfe zweimal. Bald ist er am anderen Ende verschwunden.
    Ich richte die Bücher und Papierstapel auf meinem Schreibtisch in Reih und Glied aus, als ich höre, wie die Wohnungstüre sich öffnet. Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, in der Küche neben dem Paket zu stehen, wenn Mom nach Hause kommt, aber jetzt, da es so weit ist, kann ich mich nicht von der Stelle rühren. Ich hocke auf meiner Bettkante und warte. Ich höre den Schlüsselbund rasseln, als Mom ihn am Haken neben der Tür aufhängt. Rums , landet ihre schwere Aktentasche auf dem Boden. Jetzt geht sie in die Küche und holt sich ein Glas Eistee. Ihre Gewohnheiten sind mir bestens vertraut. Noch drei Schritte, dann wird sie das Paket sehen. Zwei Schritte. Einer. Jetzt wird sie den Karton untersuchen und sich wundern, weshalb er geöffnet ist. Jetzt greift sie unter das Zeitungspapier und holt den Brief und die Holzkassette heraus. Und jetzt wird sie meinen Namen rufen. Okay … jetzt!
    Jetzt?
    Wieso höre ich nichts? Ich habe mit »Jeremy Fink! Komm sofort hierher!« gerechnet. Stattdessen … Stille. Was hat das zu bedeuten? Eine ganze Minute vergeht und noch immer nichts. Will sie mich zappeln lassen, indem sie das Unvermeidliche hinausschiebt? Und was ist, wenn sie ausgerutscht und hingefallen ist und bewusstlos auf dem Küchenboden liegt?

    Als ich in der Küche bin, stelle ich fest, dass Mom zum Glück nicht ohnmächtig auf dem Boden liegt. Nein, sie steht am Tisch und starrt auf Dads Kassette. Das kommt mir bekannt vor, so habe ich selbst eine ganze Weile dagestanden. Den Brief hält sie in der Hand, er hängt neben ihr herunter. Ihr Gesicht ist blass. Ich entdecke ein paar graue Haare, die sich zwischen ihren schwarzen vordrängeln, und aus irgendeinem Grund stimmt mich das traurig. Ich möchte sie gern bei der Hand fassen. Stattdessen frage ich nur: »Äh, Mom – alles in Ordnung?«
    Sie nickt wenig überzeugend und setzt sich auf den mit Kronkorken verzierten Stuhl. »Ich denke, das ist für dich«, sagt sie und gibt mir den Brief. Sie lässt ihre Finger über die Worte gleiten, die Dad in den Deckel der Kassette geschnitzt hat. »Der Unfall lag erst eine Woche zurück, als ich diese Kassette zur Aufbewahrung an Harold geschickt habe«, sagt sie und hält die Augen fest darauf gerichtet. »Damals schien dein dreizehnter Geburtstag Lichtjahre entfernt.«
    Sie sieht so traurig aus, dass es mir eigentlich lieber wäre, sie wäre zornig auf mich. Sie neigt nicht zu Wutausbrüchen, das nicht, aber sie legt viel Wert auf klare Grenzen. Hätte mein Name auf dem Paket gestanden, dann hätte sie es nie geöffnet, das weiß ich.
    »Dein Dad hat zwar steif und fest behauptet, er würde dabei sein und dir die Kassette selbst übergeben, aber ich wusste, dass er im tiefsten Inneren nicht daran glaubte. Die Anweisung, das Paket an Harold zu schicken, stand in seinem Testament.«
    Mein Hals fühlt sich an, als wäre eine Schlange darum gewunden, doch es gelingt mir, zu fragen: »Er hat dieser Wahrsagerin auf der Strandpromenade geglaubt, stimmt’s?«

    Mom stößt einen tiefen Seufzer aus. »Ich weiß es nicht. Ich glaube, manche Menschen haben ein feineres Gespür für ihre Sterblichkeit als andere. Er wusste um die Anzahl der Jahre, die ihm zugeteilt waren.«
    Eine Zeit lang redet keiner von uns. Dann flüstere ich: »Es tut mir leid, dass ich das Paket aufgemacht habe.« Wäre ich ein kleines bisschen jünger, würde ich die Schuld dafür Lizzy zuschieben.
    Zu meiner Überraschung lächelt Mom. »Dein Dad hätte es auch aufgemacht. Er war neugierig auf alles. Deswegen liebte er es auch so, auf Flohmärkte zu gehen und Dinge zu sammeln. Es faszinierte ihn, zu sehen, welche Dinge die Leute behielten und welche sie wegwarfen. Erinnerst du dich an die Geschichten, die er zu jedem
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