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Leben ist kurz, iss den Nachtisch zuerst

Titel: Leben ist kurz, iss den Nachtisch zuerst
Autoren: W Mass
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Vorspann
    22. Juli
    Mein Schweiß riecht nach Erdnussbutter.
    Weil ich in puncto Essen so wählerisch bin, päppelt mich meine Mutter bei jeder Mahlzeit mit Erdnussbutter-Sandwiches, vom Frühstück bis zu mitternächtlichen Imbissen. Ich nehme viele mitternächtliche Imbisse zu mir, weil ich gerne wach bin, wenn der Rest der Welt schläft (mal abgesehen von Menschen in anderen Zeitzonen, die vielleicht noch wach sind, aber das glaube ich eher nicht). Jetzt, da ich schwitze, riecht es also nach Erdnussbutter anstatt nach Körpergeruch, was in meinen Augen nicht das Schlechteste ist. Ich rieche lieber nach Schulcafeteria als nach Turnhalle.
    Im Moment sitzt gerade meine beste Freundin Lizzy neben mir und hält sich die Nase zu. Nicht wegen der Erdnussbutter, die stört sie nicht mehr. Der beleidigende Geruch entspringt dieser speziellen Kombination von sumpfigem Boden und verrottendem Fisch, für die der Mosley Lake im Nordwesten von New Jersey berühmt ist.
    Wir sind mitten in einem langen, heißen Sommer, und ich, Jeremy Fink, ein Stadtgewächs durch und durch, sitze auf einem großen Felsbrocken mitten im See, der zweifellos stinkt, aber herrlich ruhig ist. Der Himmel ist strahlend blau,
ein sanfter Wind weht von Westen her, und hellgrünes Wasser schwappt seitlich gegen das morsche, alte Ruderboot, das uns hierher gebracht hat.
    Ich balanciere auf meinen Beinen eine glatt polierte Kassette aus hellem Holz, etwa so groß wie ein Toaster. Auf dem Deckel der Kassette stehen sorgfältig hineingeschnitzt die Worte DER SINN DES LEBENS. Darunter ist in kleinerer Schrift zu lesen: FÜR JEREMY FINK, ZU ÖFFNEN AN SEINEM 13. GEBURTSTAG.
    Heute ist mein dreizehnter Geburtstag. Als ich die Kassette vor einem Monat bekam, hätte ich mir nie ausgemalt, dass die Anweisung so unmöglich zu befolgen sein würde.
    Lizzy knufft die ganze Zeit meinen Arm und drängelt, ich solle mich beeilen und das tun, weswegen wir hergekommen sind. Ja: Mein bester Freund ist ein Mädchen, und nein: Ich bin nicht heimlich in sie verknallt. Lizzy und ihr Vater sind in die Nachbarwohnung eingezogen, als sie und ich ein Jahr alt waren. Ihre Mutter hatte die Familie verlassen und war in einen der Dakota-Staaten gezogen mit einem Kerl, der auf einer Rinderfarm arbeitete (was erklärt, warum Lizzy Vegetarierin wurde, sobald sie alt genug war, um zu verstehen, was eine Rinderfarm ist). Lizzy blieb also tagsüber bei uns, während ihr Vater aufs Postamt zur Arbeit ging. Meine Mutter hat uns beiden immer direkt nebeneinander die Windeln gewechselt. Nach so etwas kann man keine romantischen Gefühle für jemanden entwickeln.
    Im Übrigen ist Lizzy ein notorischer Stänkerer. Sie hat zu vielem eine Meinung und meistens ist sie negativ. Zum Beispiel hält sie meine Sammlung von Süßigkeiten-Fehlfabrikaten für ekelhaft. Ich glaube, sie ist neidisch, weil sie nicht als
Erste drauf gekommen ist. Zum Besten, was ich habe, gehören eine rechteckige Lakritzmurmel »Good & Plenty«, Maiskorn-Fruchtgummis mit einer Extraschicht Weiß obendrauf und mein ganzer Stolz, eine M&M-Erdnuss von der Länge meines kleinen Fingers. Ich wette, bei eBay könnte ich dafür ein Vermögen bekommen.
    Unsere Reise zu diesem Felsen hat vor langer Zeit begonnen – noch bevor ich überhaupt auf die Welt kam. Hätte mein Vater seinen dreizehnten Geburtstag Baseball spielend mit seinen Freunden verbringen dürfen, anstatt von seinen Eltern nach Atlantic City verschleppt zu werden, dann säße ich nicht hier, und die Kassette gäbe es nicht. Wer hätte sich je vorgestellt, dass diese beiden Ereignisse miteinander zu tun haben könnten?
    Während meine Großmutter vor all den Jahren in einem Laden stand und die echten Atlantic-City-Toffees kaufte, spazierte mein Vater die Strandpromenade entlang und blieb vor einer alten Handleserin hängen. Sie nahm seine klamme Hand und hob sie vor ihr Gesicht. Dann ließ sie seinen Arm auf den samtbezogenen Tisch fallen und sagte: »Du wirrst sterrben, wänn du vierrzik Jahrre alt bisst.« Meine Großmutter kam noch rechtzeitig dazu, um die Erklärung der Wahrsagerin zu hören, woraufhin sie meinen Vater wegzerrte und die Bezahlung verweigerte. Jedes Mal wenn mein Vater die Geschichte erzählte, lachte er, also lachten wir auch.
    Es stellte sich heraus, dass die Prophezeiung der Wahrsagerin falsch war. Mein Vater starb nicht mit vierzig. Er war erst neununddreißig. Ich war gerade acht Jahre alt geworden. Dad muss die Prophezeiung ernster genommen
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