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Leben ist kurz, iss den Nachtisch zuerst

Titel: Leben ist kurz, iss den Nachtisch zuerst
Autoren: W Mass
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habe. Ich bin nicht so gut im Lügen wie du.«
    Lizzy stemmt die Hände in die Hüften und verengt die Augen zu Schlitzen. »Mir scheint, ich bin gerade beleidigt worden.«
    »Ich wollte damit bloß sagen: Wenn ich als Spion hinter den feindlichen Linien festsäße, würde ich mir wünschen, dass du denen erklärst, warum ich da bin. Wir haben beide unsere speziellen Fähigkeiten, und zu deinen gehört, dass du die Leute dazu bringen kannst, dir zu glauben.«
    »Und was ist deine spezielle Fähigkeit?«, fragt sie.
    Gute Frage. Was ist denn meine spezielle Fähigkeit? Habe ich überhaupt eine? Vielleicht habe ich zu viele und deshalb fällt mir keine einzelne ein.
    »Nicht so wichtig«, sagt Lizzy und wendet sich zur Tür. »Ich sehe, dass diese Frage dein Gehirn ziemlich strapaziert, und ich muss jetzt nach Hause und den Tisch fürs Abendessen decken.«
    Wir verabreden, dass ich ihr einen Zettel durch das Loch in der Wand schicke, sobald ich zur Strafe auf mein Zimmer geschickt worden bin, denn genau das wird passieren, so viel ist mir klar. Unsere Großvateruhr – Plunder aus der 83rd Street und 2nd Avenue – schlägt fünfmal. Das heißt, bis Mom nach Hause kommt, habe ich noch zwanzig Minuten Zeit, um so viel Gutes in der Wohnung zu tun, dass sie mir vielleicht das Öffnen ihres Pakets verzeiht.
    Ich schnappe mir das Fischfutter vom Regal in der Küche und laufe in den Flur, wo das Aquarium auf einem langen Marmortisch steht – Plunder aus der 67th Street und Central Park West. Die Fische schwimmen alle zur Wasseroberfläche,
um mich zu begrüßen, mit Ausnahme von Kater, dem Einzelgänger. Alle meine Fische sind nach anderen Tieren benannt, denn Mom lässt mich keine richtigen Haustiere haben, weil sie immer noch ihrem Kaninchen aus Kindertagen nachtrauert. Kater ist ein gestreifter Tigerfisch, der gerne für sich alleine bleibt. Hund ist braun mit weißen Flecken und nicht besonders schlau. Er verbringt den Großteil des Tages damit, seine Nase gegen die Wand des Aquariums zu rammen. Hamster ist ein quirliger orangefarbener Goldfisch, der den ganzen Tag hin und her flitzt, als beteilige er sich an einem olympischen Staffellauf. Mein neuester Fisch, Frettchen, hat einen lang gestreckten silbrigen Körper und ist manchmal schwer zu finden, weil er so gut zu den grauen Steinen am Boden des Aquariums passt.
    Ich streue etwas Futter ins Wasser, woraufhin die Fische es rasch herunterschlingen.
    Diese Fische und ich haben eine Menge gemeinsam. Sie schwimmen zwischen den immer gleichen vier Wänden umher und fühlen sich in ihrer vertrauten Umgebung geborgen. Genau so bin ich auch. Im Ernst, ich sehe nicht den geringsten Grund, warum ich meine Wohngegend verlassen sollte. Alles, was ich unter Umständen irgendwann haben will oder brauche, findet sich im Abstand von wenigen hundert Metern in irgendeiner Richtung: Dads Laden (für mich ist es immer noch seiner), Kinos, Schule, der Arzt, Lebensmittelläden, Zahnarzt, Klamotten, Schuhe, der Park, die Bücherei, die Post, einfach alles. Ich mag keine Veränderungen.
    Ich schnappe mir den Staubwedel unter dem Spülbecken, renne durch die Wohnung und fege damit über jede Oberfläche, auf der sich eventuell Staub ansammeln könnte. Ich
wische die Spiegel ab, Tante Judis zahlreiche Skulpturen, Tischplatten, Bücherregale und Buchrücken (die zugehörigen Bücher sind überwiegend von der Bücherei aussortiert oder auf Flohmärkten erstanden worden). Ich staube den Fernsehschirm ab und die Perlschnurvorhänge, die Mom in dem Sommer gebastelt hat, als sie mit mir schwanger und ans Bett gefesselt war. Wahrhaftig, ich bin kurz davor, mich selbst abzustauben!
    Als Nächstes renne ich in mein Zimmer und werfe schnell die Decke übers Bett; dabei halte ich mich nicht erst damit auf, das Betttuch glatt zu ziehen. Das Plüschkrokodil, das Dad für mich gewonnen hat, indem er auf dem State Fair alte Milchgläser umwarf, steckt unter der Decke fest. Jetzt muss man wegen der Höcker und Dellen denken, ich würde dort etwas verstecken. Das will ich gerade in Ordnung bringen, als ich das zweifache Klopfzeichen an der Wand höre – das Signal, dass eine neue Nachricht auf mich wartet. Ich hebe das Poster mit dem Sonnensystem an, von dem das Loch verdeckt wird, und greife nach dem Ende eines zusammengerollten Blatts aus einem Schulheft. Unsere Wände liegen ungefähr 15 Zentimeter auseinander, deshalb sind kleinere Zettel bei unseren ersten Versuchen, sie hin und her zu schieben, in den
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