Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Leben ist kurz, iss den Nachtisch zuerst

Titel: Leben ist kurz, iss den Nachtisch zuerst
Autoren: W Mass
Vom Netzwerk:
und?«, sagt sie. »Dann leg das eben zu deinen anderen Zeitreise-Unterlagen. Deine Mutter wird nicht merken, wenn ein Zeitungsblatt fehlt.«
    »Ich brauche es gar nicht zu meinen Unterlagen zu legen«, erkläre ich ihr, hole mir das Blatt zurück und rolle es wieder zu einer Kugel. »Ich habe es nämlich schon.«

    »Hä?«
    »Diese Zeitung ist fünf Jahre alt!«
    Sie zerrt weiteres Papier aus dem Karton, bis sie ein Blatt mit Datum darauf findet. Dann zieht sie scharf die Luft ein und sagt: »Du hast recht! Diese Seite stammt aus der Woche nach … nach …« Lizzy verstummt und beschäftigt sich eifrig damit, noch mehr Papier aus dem Karton auszugraben. Ich weiß, was sie sagen wollte. Das Blatt stammt aus der Woche, nachdem mein Vater gestorben ist.
    Schweigend entfernen wir die restliche Zeitung, bis nur noch zwei Dinge in dem Karton sind: ein maschinengeschriebener Brief auf Geschäftspapier und ein rechteckiger Gegenstand von der Größe eines Schuhkartons, eingewickelt in Seidenpapier. Wir schauen uns mit großen Augen an. Lizzy will nach dem Brief greifen, zieht dann aber die Hand zurück. »Vielleicht machst lieber du das.«
    »Und was passiert, wenn es etwas ist, von dem meine Mom nicht will, dass wir es sehen?«
    »Jetzt sind wir schon mal so weit«, sagt sie und fügt rasch hinzu: »Aber du entscheidest.«
    Ich wische meine schwitzenden Hände an meinen Shorts ab. So wenig ich es zugeben will, das geheimnisvolle Paket lockt mich an, ich kann mich nicht dagegen wehren. Ich straffe die Schultern und nehme vorsichtig den Brief heraus, wobei ich mich bemühe, ihn nicht zu verknittern. Die Adresse im Briefkopf ist mit der des Absenders identisch. Immerhin ist der Brief nicht fünf Jahre alt, denn er trägt das Datum von gestern. Ich lese ihn laut vor und versuche, meine Stimme ruhig und fest klingen zu lassen:
    Liebe Laney,
     
    hoffentlich findet dich dieses Schreiben bei guter Gesundheit. Ich weiß, ich hätte dieses Paket erst später in diesem Sommer schicken sollen, aber wir haben die Geschäftsstelle in Manhattan geschlossen, und ich wollte nicht riskieren, dass es beim Umzug in unser Büro auf Long Island eventuell verlegt wird. Ein weiterer Grund, es vorzeitig zu versenden, ist – und das wird dir vermutlich nicht gefallen -, dass ich offenbar die Schlüssel verlegt habe. Ich bin mir ziemlich sicher, dass du sie zusammen mit der Kassette an mein Büro geschickt hast, und ich erinnere mich dunkel, sie einigermaßen raffiniert versteckt zu haben. Dummerweise zu raffiniert, wie ich jetzt leider zugeben muss.
    Laut Erklärung des Schlossers, den ich aufgesucht habe, besteht der Schließmechanismus der Kassette aus einem komplizierten System von Hebeln und Scheiben. Jedes der vier Schlüssellöcher erfordert einen anderen Schlüssel, und eine innen angebrachte Verriegelung verhindert, dass die Kassette aufgebrochen wird. Typisch – Daniel konnte sich nicht mit einer normalen Kassette und einem einzigen Schlüsselloch begnügen wie jeder andere. Aber ich bin mir sicher, du und Jeremy werdet das rechtzeitig austüfteln.
    Ich habe nur warme Erinnerungen an Daniel aus unseren College-Tagen, und es war mir eine Ehre, ihm den Gefallen zu erweisen und diesen Gegenstand
über all die Jahre aufzubewahren. Dir alle guten Wünsche!
     
    Mit besten Grüßen,
    Harold
    Lizzy nimmt mir den Brief aus der Hand und liest ihn noch einmal stumm durch. »Was bedeutet das?«, fragt sie leise. Lizzy sagt ganz selten etwas leise, daher ist mir klar, dass sie genauso überrascht ist wie ich. Ich traue mich nicht zu sprechen, schüttle lediglich den Kopf. Ich kann mich nicht erinnern, dass mein Vater einen Studienkollegen namens Harold erwähnt hätte, wobei ich allerdings zugegebenermaßen jedes Mal abgeschaltet habe, wenn meine Eltern in Erinnerungen an die alten College-Zeiten zu schwelgen anfingen. Aber dieser Harold muss sie ziemlich gut gekannt haben, da er Mom Laney nennt, und das tun nur ihre engen Freunde. Meine Mutter hat ihm also dieses Paket geschickt und gesagt, er soll es fünf Jahre später zurücksenden? Warum sollte sie das getan haben? Und was meint er damit, dass er meinem Dad einen Gefallen erweist?
    Bevor ich mich bremsen kann, greife ich in den Karton und hole den in Seidenpapier eingeschlagenen Gegenstand heraus. Das Papier gleitet herunter und fällt zu Boden. Und da stehe ich nun und halte eine glatt polierte Holzkassette mit Schlüssellöchern auf vier Seiten in den Händen. Transparenter Lack lässt das
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher