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Leben ist kurz, iss den Nachtisch zuerst

Titel: Leben ist kurz, iss den Nachtisch zuerst
Autoren: W Mass
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roten Haaren ist sie leicht zu finden. Sie steht ans Schaufenster von Larry’s Locks and Clocks gelehnt und bewundert ihren neuesten Schatz – einen orangefarbenen Werbezettel, der das Erscheinen eines Doppelhefts aus der Comicserie Betty and Veronica ankündigt. Nur wenige Sekunden vorher klebte der Zettel noch an der Ladenwand.
    »Kannst du deine Talente nicht für was Gutes anstatt für solchen Quatsch verwenden?«, frage ich und schlucke den Rest meines Peppermint Patties hinunter.
    Sie antwortet nicht, sondern faltet das Papier willkürlich zusammen und stopft es in ihre Gesäßtasche.
    »Wozu, Lizzy?«, frage ich sie, als wir uns die Straße entlang auf den Heimweg machen. »Wozu?«
    »Wozu was?«, fragt sie zurück und lässt einen Bazooka-Kaugummi mit Weintraubengeschmack im Mund schnalzen. Sie bietet mir auch einen an, aber ich lehne ab. Weintrauben und Pfefferminzgeschmack passen einfach nicht zusammen.
    »Wozu klaust du etwas, das kein Geld wert ist?«
    »Wäre es dir denn lieber, ich hätte was Wertvolles geklaut?«

    »Natürlich nicht.«
    »Na, dann hör auf zu motzen«, sagt sie. »Du weißt, dass ich nicht erklären kann, weshalb ich bestimmte Dinge mitnehme. Ich suche sie nicht aus, sie suchen mich aus.«
    »Und was ist mit all den Kunden, die deinetwegen nicht von dem neuen Betty-and-Veronica- Band erfahren?«
    Sie zuckt die Achseln. »Archie Comics liest sowieso keiner mehr.«
    Tatsächlich sind diese Comics immer am Ende des Monats als Letzte übrig. Die Comics von Archie waren die Lieblingslektüre meines Vaters als Junge, deshalb hat er dafür gesorgt, dass sie immer vorrätig waren. Onkel Arthur weiß so wenig über Comics, dass er nicht zwischen X-Men und Richie Rich unterscheiden kann, also bestellt er sie weiterhin alle.
    »Darum geht es aber gar nicht«, erkläre ich ihr.
    »Du brichst wohl kaum in Tränen aus, weil deinem Onkel ein oder zwei Verkäufe entgehen. Vergiss nicht, du kannst ihn nicht ausstehen.«
    »Es ist nicht so, dass ich ihn nicht ausstehen kann«, sage ich störrisch und verschränke die Arme. »Nur versuch du mal, einen Onkel zu haben, der der Zwillingsbruder deines toten Vaters ist und dich vollständig ignoriert – mal sehen, wie dir das gefallen würde.«
    Lizzy sagt jetzt nichts mehr und konzentriert sich voll darauf, den Schorf von ihrem Ellbogen abzukratzen. Das mit meinem Vater hätte ich nicht sagen sollen. Als er starb, hat das Lizzy fast genauso umgehauen wie mich. Er war für sie wie ein zweiter Vater. So fertig sie war, hat sie aber trotzdem drei Wochen lang in ihrem Schlafsack bei mir auf dem Boden übernachtet, bis ich nachts wieder durchschlafen konnte.

    Wir schaffen es bis zu unserem Wohnblock in Murray Hill, ohne dass einer von uns den anderen noch tiefer in Trübsinn stürzt und ohne dass Lizzy noch etwas stiehlt. Einer unserer Nachbarn, Mr Zoder, steigt langsam die Treppe hinauf. Es ist Freitag, also trägt er gelb. Meine Eltern haben seit jeher gesagt, dass New York eine Stadt voller Originale ist und dass sie genau deswegen nirgendwo anders leben möchten. Wir wollen gerade hinter Mr Zoder ins Haus gehen, als unser Postbote Nick auftaucht. Er schiebt seinen riesigen blauen Karren vor sich her.
    »Hallo, Nick«, sagt Lizzy und hebt die Hand zum Gruß.
    »Na, das sind doch ganz klar Lizzy Muldoun und Jeremy Fink!«, antwortet er und tippt sich an die Mütze. Alle Postboten in der Umgebung kennen uns, weil Lizzys Vater auf dem Postamt arbeitet.
    »Mal sehen, was ich heute für euch zwei habe.« Nick greift in seinen Karren und holt einen großen Pappkarton heraus. Zu meiner Überraschung ist er an Elaine Fink gerichtet und es steht unsere Adresse drauf. Ich kann mir nicht vorstellen, was das sein soll, Mom kauft nie etwas bei Versandhäusern! Genau genommen besitzen wir – mit Ausnahme von Lebensmitteln und meiner Kleidung (bei der ich darauf bestehe, dass sie neu ist, seit ein Junge aus meiner Klasse mir sagte, ich trüge einen Pulli, den seine Mutter eine Woche zuvor entsorgt hätte) – kaum etwas, das nicht vom Flohmarkt stammt oder am Sperrmülltag von der Straße aufgelesen worden ist. Es ist nicht so, dass wir uns keine neuen Dinge leisten könnten. Mom hat eine gute Stelle in der Bücherei. Aber nach ihrer Auffassung ist Einkaufen im Geschäft etwas für Doofe, und irgendwie kann man auch die Umwelt retten, indem man anderer Leute Besitztümer recycelt.

    WAS IST DANN IN DIESEM KARTON?
    Nick will ihn mir aushändigen, doch dann zögert er
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