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Leben ist kurz, iss den Nachtisch zuerst

Titel: Leben ist kurz, iss den Nachtisch zuerst
Autoren: W Mass
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Holz fast lebendig erscheinen. Als Erstes schießt mir durch den Kopf, wie hübsch die Kassette ist. Nie wäre mir eingefallen, dass eine hölzerne Kassette hübsch sein könnte. Verflixt, ich glaube nicht, dass ich das Wort »hübsch« überhaupt je zuvor verwendet habe, und falls Lizzy auf die Idee käme, nachzufragen, würde ich leugnen, dass ich es jetzt tue.

    Lizzy bückt sich und hebt das Seidenpapier vor meinen Füßen auf. Sie richtet sich langsam auf und sagt: »Äh, Jeremy?«
    »Hmmmm?« Ich bin unfähig, den Blick von der Kassette in meinen Händen zu lösen. Ich schüttle sie sanft und höre, wie sich ein paar Gegenstände mit gedämpftem Geräusch bewegen und aneinanderstoßen. Das Ganze kann nicht mehr als ein knappes Kilo wiegen.
    »Also, vielleicht magst du sie mal umdrehen«, sagt Lizzy. Ich schüttle die Kassette die ganze Zeit nur hin und her und bin völlig gebannt. Schließlich schnappt Lizzy sie mir weg, stellt sie auf den Kopf und gibt sie mir zurück. Auf dem Deckel starren mir die Worte entgegen: DER SINN DES LEBENS – FÜR JEREMY FINK, ZU ÖFFNEN AN SEINEM 13. GEBURTSTAG.
    Die Arbeit meines Vaters würde ich überall erkennen.

Kapitel 2: Die Erklärung
    »Sieht so aus, als wäre das Paket gar nicht für deine Mutter gewesen«, sagt Lizzy ein paar Augenblicke später.
    Ich antworte nicht. Mit zitternden Händen setze ich die Holzkassette auf dem Küchentisch ab. Wir weichen ungefähr einen halben Meter zurück und glotzen sie an.
    »Dann ist das also ein Geburtstagsgeschenk von deinem Vater?«, fragt Lizzy.
    Ich nicke. Mein Herz schlägt so heftig, dass ich es buchstäblich in den Ohren pulsieren höre.
    Wir schauen noch ein Weilchen und mir verschwimmen die Worte vor den Augen. Der Sinn des Lebens. Für Jeremy Fink. Dreizehnter Geburtstag. Mom hat offenbar seit mindestens fünf Jahren davon gewusst. Warum hat sie es mir verschwiegen? Ich habe keinerlei Geheimnisse vor irgendjemandem. Na ja, vermutlich habe ich keinem erzählt, dass ich Rachel Schwartz letzten April bei ihrer Bar-Mizwa geküsst habe, aber das ist hauptsächlich deswegen, weil es weniger ein Kuss war als der Umstand, dass unsere Lippen zufällig denselben Luftraum beanspruchten, als wir beide nach dem letzten Shirley-Temple-Cocktail auf dem Tablett des Kellners griffen.
    »Was meinst du denn, was drin ist?«, will Lizzy wissen.

    Endlich mache ich den Mund auf. »Keine Ahnung.«
    »Kann der Sinn des Lebens in einer Kassette stecken?«
    »Hätte ich eigentlich nicht gedacht«, sage ich.
    »Und du hast diese Kassette nie zuvor gesehen?«
    Ich schüttle den Kopf.
    »Deine Mom hat nie davon gesprochen?«
    Wieder schüttle ich den Kopf und versuche, mich zu erinnern, was ich tun muss, um Panikanfälle zu vermeiden. Ich habe bisher nur einen gehabt, letztes Jahr, als Mom und ich nach Florida geflogen sind, um meine Großeltern zu besuchen. Egal wie sicher Fliegen angeblich ist, meiner Meinung nach sollten sich nur Vögel und Superhelden am Himmel herumtreiben. Tief einatmen, Luft anhalten, bis vier zählen, tief ausatmen.
    Ich habe noch nie über den Sinn des Lebens nachgedacht. Warum nicht? Was stimmt mit mir nicht? Haben alle und jeder darüber nachgedacht, nur ich nicht? Vielleicht war ich an jenem verhängnisvollen Tag zu sehr damit beschäftigt, etwas über Zeitreisen in Erfahrung zu bringen, als dass ich Dad davon hätte abhalten können, ins Auto zu steigen. Meine Zeitreise-Forschungen sind allerdings wichtig, wenn nicht lebenswichtig , für die gesamte Menschheit. Wie hätte ich da auf den Gedanken kommen sollen, sie zurückzustellen, um über den Sinn des Lebens nachzudenken?
    »Geht’s dir gut?«, fragt Lizzy und schaut zu mir hoch. »Du bist ein bisschen grün im Gesicht.«
    Ich fühle mich tatsächlich leicht benommen von dem vielen tiefen Einatmen. »Ich glaube, ich setze mich besser mal hin.« Wir gehen ins Wohnzimmer und lassen uns auf das braune Cordsofa sinken. Ich lehne mich zurück und schließe die Augen.
Als ich drei Jahre alt war, habe ich diesem Sofa den Namen »Plunder« gegeben. Es war eines der ersten Möbelstücke, die meine Eltern in der Hochphase ihrer alten Sammlertage gefunden hatten, noch vor meiner Geburt. Dad erzählte mir, dass Sachen, die die Leute auf der Straße deponierten, so genannt würden. Wahrscheinlich erzählte er mir das, während wir auf dem Sofa saßen, denn irgendwie glaubte ich, er hätte gesagt, das Sofa hieße Plunder. Das Sofa war alt, als sie es entdeckten, und jetzt ist es
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