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Lauter Irre

Lauter Irre

Titel: Lauter Irre
Autoren: Tom Sharp
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aufgewühlten See in sehr authentischen Böen. Es war zu dunkel, um zu erkennen, ob die See tatsächlich aufgewühlt war oder nicht, und um die Wahrheit zu sagen, selbst wenn es so hell gewesen wäre, wie der Vollmond es nur hätte bewerkstelligen können, so wäre Mr. Wiley, von Natur aus ein ungemein vorsichtiger Mensch, nicht geneigt gewesen nachzusehen. Es war ein Ausdruck seiner Liebe zu Vera, oder vielmehr seines verzweifelten Wunsches, sich jene häusliche Behaglichkeit zu sichern, die seine verheirateten Freunde allem Anschein nach genossen und die Veras unschuldiger Sinn für Romantik zu verheißen schien, dass er sich der lotrecht abfallenden Klippe überhaupt so weit genähert hatte. Erst auf der Fahrt dorthin war ihm wieder eingefallen, dass Beachy Head jene Steilwand war, von der sich so viele Menschen in den Tod stürzten, und als er sich mit der grauenvollen Wirklichkeit der Tiefe konfrontiert sah, die es eindeutig unmöglich machte, einen Sturz zu überleben, vervierfachte sich seine Angst.
    Es war mehr diese Furcht als echte Leidenschaft gewesen, die Mr. Wiley dazu bewogen hatte, Vera mit verblüffender Geschwindigkeit die Ehe anzutragen und sie sodann an sein heftig pochendes Herz zu drücken. Außerdem half ihm eine plötzliche Windbö, die ihn genau in diesem Moment praktisch von den Beinen riss. Mit seiner künftigen Braut in den Armen, und obendrein noch einer sehr schweren künftigen Braut, fühlte er sich sehr viel sicherer. Und wie um den Anlass feierlich zu begehen, schien der Mond durch eine Wolkenlücke, so voll und strahlend, wie Vera es sich gewünscht hatte, und beleuchtete das Paar.
    »Oh mein Liebling, wie sehr habe ich auf diesen Augenblick gewartet!«, flüsterte Vera verzückt.
    Augenscheinlich jedoch hatten das auch zwei Polizisten getan. Von einem Autofahrer alarmiert, der zufällig vorbeigekommen war, das Auto gesehen und auf dem Revier angerufen hatte, um zu melden, dass offenkundig wieder mal ein paar Verrückte drauf und dran waren, Selbstmord zu begehen, hatten sie sich mit allergrößter Behutsamkeit an das Paar herangepirscht.
    »Na, na, es wird schon alles wieder gut«, hatte einer der Polizisten verkündet, während seine Taschenlampe die Szene noch zusätzlich erhellte.
    Es war nicht alles gut geworden. Horace Wiley hatte sich dagegen gesträubt, sich als Bankangestellter auszuweisen, gegenwärtig wohnhaft in der Selhurst Road 143 in Croydon, und empört die Unterstellung von sich gewiesen, er sei im Begriff gewesen, sich das Leben zu nehmen oder, wie der Sergeant es reichlich taktlos ausgedrückt hatte, »zu kneifen«.
    In späteren Jahren neigte Horace Wiley zu dem Schluss, dass dieser Ausdruck etwas Prophetisches gehabt habe. Damals jedoch machte er sich mehr Gedanken um die möglichen Konsequenzen für seine berufliche Laufbahn, sollte jemals bekannt werden, dass er, wieder in den Worten des Sergeant, »es sich zur Gewohnheit machte, bei Vollmond im Smoking nach Beachy Head zu fahren und sonderbaren Frauen Heiratsanträge zu machen«, was mehr oder weniger das war, was er Veras Erklärung nach getan hatte. Mr. Wiley wünschte sich inständig, sie hätte den Mund gehalten. Ein Wunsch, der sich im Zuge ihres Ehelebens als ebenso nutzlos erwies wie just in diesem Moment. Vera hatte die Andeutung, sie wäre eine sonderbare Frau, als so beleidigend empfunden, dass der Sergeant seine Worte schließlich selbst bereute. Und dann fing es an zu regnen.
    Kurz gesagt entsprang diesem wenig verheißungsvollen Beginn, der Trauung in der Kirche zu St. Agnes, die ihrer literarischen Bedeutung wegen ausgesucht worden war (das Gedicht hatte Vera in der Schule zutiefst bewegt), und Flitterwochen in Exmoor (die der Romanheldin Lorna Doone zu verdanken waren), ein Sohn und Erbe, der Esmond genannt wurde. Und es lag mehr an diesem Vornamen als dem unverfänglicheren Wiley, dass die Frucht von Horaces und Veras Ehe eine so qualvolle Knabenzeit durchlitt.
    Esmond war nach einer Figur in einer besonders heftigen Liebesgeschichte benannt worden, von der seine Mutter kurz vor der Geburt völlig hingerissen gewesen war. Nach einer entsetzlich schweren Geburt, bei der Horace so gut wie überhaupt keine Hilfe gewesen war (seine Furcht vor Blut war fast ebenso groß wie seine Höhenangst), fand sie ein wenig Trost darin, sich den fiktiven Esmond vorzustellen. Ein ganzer Kerl in hirschledernen Beinkleidern, das Hemd offen bis zum Nabel, so dass eine ungemein männliche Brust entblößt war, und
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