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Lauter Irre

Lauter Irre

Titel: Lauter Irre
Autoren: Tom Sharp
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mit einer Mähne allerschwärzester Locken, windzerzaust auf freier Heide oder, häufiger noch, auf einem Felsvorsprung über einem wild bewegten Meer. So schien er ihr das beste Vorbild für einen Jungen zu sein, der, wie sie beschloss, nicht im Geringsten so werden sollte wie sein ängstlicher und definitiv zu unromantischer Vater.
    Nachdem man ihn derart früh solchen furchtbaren literarischen Einflüssen ausgesetzt hatte, war es vielleicht nicht überraschend, dass Esmond Wiley sich schon in jungen Jahren ein Verhalten angewöhnte, das sich hier am besten mit Lungern beschreiben lässt. Während andere Jungen rannten und schrien und hüpften und herumalberten und sich ganz allgemein jungenhaft verhielten, hing Esmond fast von dem Augenblick an, als er Laufen gelernt hatte, lediglich in der Gegend herum, und zwar auf sowohl hinterhältige als auch melancholische Art und Weise.
    Aus Esmonds Sicht war sein Verhalten vollkommen verständlich. Es war schon schlimm genug, Esmond zu heißen, aber überall – im Haus, in jeder Buchhandlung und jedem Zeitungsladen, den er betrat – auf das Abbild von Veras romantischem Helden zu stoßen, reichte aus, um selbst einem unsensiblen Jungen klarzumachen, dass er die Hoffnungen und Erwartungen seiner Mutter niemals würde erfüllen können.
    Dabei war Esmond gar kein unsensibler Junge. Er war ein sehr unsicherer Junge. Kein Kind mit seinen Beinen und seinen Ohren – Erstere dünn und Letztere groß und abstehend – könnte sich seiner Schwächen nicht bewusst sein. Ebenso wenig konnte er umhin, ebenso die Schwächen seiner Mutter wahrzunehmen, die die Kindererziehung mit denselben sentimentalen, altmodischen Einstellungen anging wie das Lesen.
    Ihr Liebe als Vernarrtheit zu bezeichnen wäre maßlos untertrieben. Das würde der beängstigenden Anbetung längst nicht gerecht werden, die dem armen Jungen zuteilwurde. Jedes Mal, wenn Vera ihren Sohn erblickte, war es ihr ein unwiderstehliches Bedürfnis, in aller Öffentlichkeit und mit lauter Stimme zu sagen: »Seht euch doch nur dieses göttliche Geschöpf an. Er heißt Esmond. Er ist mein Kind der Liebe, mein süßer kleiner Liebling, ein wahres Kind der Liebe.« Dies war eine Bezeichnung, die sie aus Die Reifejahre des jungen Esmond hatte, angeblich von Rosemary Beadefield, in Wirklichkeit jedoch von zwölf verschiedenen Autoren verfasst, von denen jeder ein Kapitel geschrieben hatte.
    Die Tatsache, dass Vera den Begriff vollkommen falsch verstanden hatte und aller Welt verkündete, dass ihr Sohn unehelich geboren worden und, wie sein Vater oft insgeheim dachte, jedoch niemals laut zu äußern wagte, ein kleiner Bastard sei, kam ihr niemals in den Sinn. Esmond ebenfalls nicht. Er war zu sehr damit beschäftigt, den Spott, das Johlen und die Pfiffe all derer zu ertragen, die zum fraglichen Zeitpunkt gerade in der Nähe waren.
    Eine schlampige Mutter zu haben, die mit einem einkaufen ging und aller Welt verkündete, »das ist Esmond«, war ja schon schlimm genug, aber auch noch als »Kind der Liebe« bezeichnet zu werden – das hieß, Eisen in die Seele zu stoßen, und zwar rotglühendes Eisen. Nicht dass Esmond Wiley eine Seele hatte, oder wenn doch, so war es keine besonders bemerkenswerte; doch das Gewirr aus Neuronen, Nervenenden, Synapsen und Ganglien, die das Wenige darstellten, was er vielleicht an Seele hätte haben sollen, war durch diese wiederholten, qualvollen Eröffnungen dermaßen aufgewühlt, dass Esmond sich manchmal wünschte, er wäre tot. Oder seine Mutter. Ein normales Kind hätte wohl das eine oder andere dieser erstrebenswerten Ziele zu erreichen versucht. Verständlich wäre es gewesen. Leider Gottes war Esmond Wiley jedoch kein normales Kind. Er hatte zu viel von der Vorsicht und der Schüchternheit seines Vaters. Vielleicht war es ja kein Wunder, dass er sich am liebsten in eine Ecke verdrückte und hoffte, nicht bemerkt zu werden. So blieb es ihm jedenfalls erspart, einen weiteren Spruch aus dem Mund seiner Mutter erdulden zu müssen.
    Esmonds Ähnlichkeit mit Horace Wiley war ebenfalls ein eindeutiges Handicap. Andere Väter wären vielleicht hocherfreut gewesen, einen Sohn zu haben, der ihnen so stark ähnelte und dessen Eigenschaften den ihren fast so sehr glichen, als wären sie geklont worden. Mr. Wileys Gefühle hingegen waren ganz anderer Natur. Im Laufe seiner Ehejahre hatte er sich immer wieder einzureden versucht, nur deshalb eine derart leichtsinnige und unheilvolle eheliche Investition
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