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Lauter Irre

Lauter Irre

Titel: Lauter Irre
Autoren: Tom Sharp
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getätigt zu haben, um sicherzugehen, dass der Welt die Erzeugung weiterer schüchterner Wileys mit dürren Beinen und abstehenden Ohren erspart bleiben würde. Also, so lautete sein verblendetes Argument, hatte er sich eine stämmige Frau mit kräftigen Beinen und wohlproportionierten Ohren ausgesucht, die annähernd normale Kinder (Nachkommen nannte er sie) gebären würde. Sie würden so etwas wie Standarderzeugnisse sein, eine erlesene Mischung aus Kühnheit und Schüchternheit, aus Frechheit und Selbstverleugnung, aus vulgärer Sentimentalität und behutsamem gutem Geschmack. Und sie würden es später nicht für ihre Schuldigkeit halten, aus einem Gefühl der Pflicht heraus völlig unpassende Frauen zu ehelichen, von eugenischen Gründen ganz zu schweigen.
    Esmond Wiley führte die Hoffnungen seines Vaters ad absurdum. Er hatte so große Ähnlichkeit mit Mr. Wiley, dass es Augenblicke vor dem Rasierspiegel gab, in denen Horace von der beklemmenden Illusion heimgesucht wurde, sein Sohn starre ihm entgegen. Dieselben großen Ohren, dieselben kleinen Augen und dieselben schmalen Lippen, sogar dieselbe Nase blickten ihn an. Nur Horaces Beinen blieb dieser fürchterliche Vergleich erspart, da sie in gestreiften Pyjamahosen steckten. Alles andere war enthüllt und gröblichst offenkundig.
    Und es gab sogar etwas noch Schlimmeres, obgleich der Rasierspiegel es nicht zeigte. Esmond Wileys Wesen war, genau wie sein Äußeres, exakt das seines Vaters. Zaghaft, vorsichtig – kurz: ein trübsinniger, schwermütiger Herumlungerer. Und genau wie sein Vater hegte er eine tiefe Abneigung gegen den literarischen Geschmack seiner Mutter. Ihm wurde regelrecht übel, wenn Vera versuchte, ihm die Bücher schmackhaft zu machen, die sie als Heranwachsende so beeinflusst, ja so betört hatten. Und die wenigen Male, wenn man ihn nicht beim Herumlungern antraf, war er meist im Bad, den Kopf strategisch günstig über der Toilettenschüssel positioniert.
    Kurz und gut, keine Spur von der fröhlichen Theatralik seiner Mutter, keinerlei Sinn für ihre gutherzige Romantik und nicht ein Hauch des leidenschaftlichen Sichgehenlassens und der Vitalität, die auf Mr. Wileys Zartgefühl in den Flitterwochen keinerlei Rücksicht genommen hatten. Was immer Esmond auch an Leidenschaften und Hemmungslosigkeit zu eigen war – und es gab Tage, an denen Mr. Wiley bezweifelte, dass der Junge irgendetwas Derartiges besaß –, es war so gut verborgen, dass Horace Wiley sich gelegentlich fragte, ob sein Sohn womöglich autistisch war.
    Mit zehn und sogar mit elf Jahren war Esmond ein auffallend stilles Kind, das, wenn es überhaupt kommunizierte, nur mit der Katze Sackbut sprach, einem kastrierten (ein symbolischer Akt seitens Mrs. Wiley, und zwar einer, der mehr mit Mr. Wileys mangelnder Leistung zu tun hatte als mit Sackbuts persönlichen Neigungen), verfetteten Kater, der rund um die Uhr schlief und sich nur zum Fressen erhob.
    So hätte es ewig weitergehen können; Esmond hätte ausschließlich mit dem impotenten Sackbut reden, in Croydon herumlungern und niemals in die Nähe von Northumberland kommen können, geschweige denn in die einer Grope, hätte die Pubertät nicht eine eigenartige Wirkung auf den Jungen gehabt.
    Im Alter von vierzehn Jahren veränderte Esmond sich plötzlich und fing an, seinen Gefühlen – ganz im Gegensatz zu der Schüchternheit seiner früheren Lebensjahre – mit einer Vehemenz Ausdruck zu verleihen, die ohrenbetäubend war. Und zwar im wahrsten Sinne des Wortes. Am Tag vor Esmonds vierzehntem Geburtstag kam Mr. Wiley nach einem nervtötenden Tag in der Bank heim und stellte zu seinem Schrecken fest, dass das Haus von Trommelgetöse widerhallte.
    »Was zum Teufel geht hier vor?«, verlangte er mit sehr viel mehr Nachdruck als gewöhnlich zu wissen.
    »Esmond hat Geburtstag, und Onkel Albert hat ihm ein Schlagzeug geschenkt«, antwortete Mrs. Wiley. »Ich habe ihm erzählt, dass ich glaube, Esmond ist vielleicht künstlerisch begabt, und Albert sagt, seiner Meinung nach könnte Esmond musikalisches Talent haben.«
    »Er hat was gesagt?«, brüllte Mr. Wiley, teilweise um seine Ungläubigkeit zum Ausdruck zu bringen und teilweise um sich bei dem Lärm verständlich zu machen.
    »Onkel Albert denkt, Esmond ist musikalisch und braucht nur Anregung. Er hat ihm ein Schlagzeug geschenkt. Ich finde das sehr lieb von ihm, du nicht?«
    Mr. Wiley behielt seine Gedanken über Onkel Albert für sich. Was immer Veras Bruder auch dazu
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