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Lauter Irre

Lauter Irre

Titel: Lauter Irre
Autoren: Tom Sharp
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hergab und keine Einkommensquelle mehr war. Der moderne Lebensstil des englischen Südens hatte ihr nie so recht zugesagt, mit seiner erstickenden Höflichkeit, seinen gesellschaftlichen Feinheiten und der Notwendigkeit, sich anzupassen. Besonders hatte sie die Anmaßung ihres Mannes geärgert, er sei der Herr im Haus und sie lediglich eine Art übergeordnete Dienstmagd. Fest entschlossen, abermals die Führung zu übernehmen, wählte sie den verwaisten Sohn einer Cousine, die in einem Zeppelin-Angriff auf London ums Leben gekommen war, als neuen Reverend Grope aus. Sein Vater, der sich neu vermählt hatte, wollte den trotteligen jungen Burschen nicht mehr um sich haben und war froh, dass Eliza ihn zum Theologiestudium auf ein kleines College schickte.
    Selbst nach dem Zweiten Weltkrieg, und lange nachdem Myrtle Grope Elizas Nachfolge angetreten hatte – ebenfalls eine Witwe, die ihren Gatten auf dem Schlachtfeld losgeworden war –, weigerten sich die Gropes, ganz und gar mit der Zeit zu gehen. Die Äcker wurden noch immer mit Pferdegespannen gepflügt, die Heuschober blieben erhalten, und die Kühe wurden von Hand gemolken. Die Anzahl der Bluthunde reduzierte sich infolge eines unglücklichen Vorkommnisses mit einem der Bullen auf sechs, im Großen und Ganzen jedoch hätten Ursula Grope und Awgard der Bleiche Grope Hall voller Stolz als ihr Heim wiedererkannt, wären sie aus dem 12. Jahrhundert zurückgekehrt.
    Auf dieses isolierte Anwesen und in dieses uralte Bauernhaus brachte, als das neue Jahrtausend heraufdämmerte, Belinda Grope, die Nichte der nunmehr hochbetagten Myrtle, einen jungen und ziemlich unreifen Burschen namens Esmond Wiley.

3
     
    Esmond Wileys Jugend war nicht reibungslos verlaufen. Zum großen Teil lag das an seinem Namen.
    Es war schwerlich seine Schuld, oder auch die seines Vaters, dass sein Nachname Wiley lautete, wenngleich es vorgekommen war, dass sich Esmond in eher düstereren Stunden bisweilen gewünscht hatte, Mr. Wiley wäre Junggeselle geblieben. Oder er hätte, wenn er denn schon das dringende Bedürfnis verspürt hatte, sich zu vermählen, was nachweislich der Fall war, Enthaltsamkeit geübt oder, was nachweislich nicht der Fall war, Vorkehrungen getroffen, um seine Ehefrau nicht zu schwängern. Nicht, dass Esmond seinem Vater Vorwürfe machte. Mrs. Wiley war keine Frau, der man das Recht auf Mutterschaft verwehren konnte.
    Sie war eine füllige und beklagenswert fröhliche Frau mit einem unersättlichen Verlangen nach hochgradig rührseligen Schundromanen; außerdem hatte sich bei ihr ein gleichermaßen unersättliches Verlangen nach Liebe eingestellt. Oder, um es anders auszudrücken, sie lebte in einer Welt, in welcher Männer, selbstredend von ehrenhaftem Wesen, auf hoch aufragenden Klippen unter einem Vollmond leidenschaftliche Heiratsanträge vorbrachten, während sich unter ihnen die Wellen an den Felsen brachen. Anträge, die mit einer Mischung aus Entzücken und Sittsamkeit angenommen wurden, woraufhin die Glücklichen ihre jungfräulichen Verlobten mit Macht an ihre männliche Brust drückten.
    Es muss gesagt werden, dass es nicht unbedingt das war, was Horace Wiley getan hatte. Er war von vornherein kein besonders männlicher Typ und hatte zudem als Filialleiter einer Bank in Croydon sein Möglichstes getan, um dem schwachen Hang zur Leidenschaft zu widerstehen, der den Wileys zu eigen war, oder vielmehr, der in der Familie vor sich hin verkümmerte. Nichtsdestotrotz hatte Mrs. Wiley, damals Vera Ponson und 28 Jahre alt, ihn dazu gebracht, ihr einen Heiratsantrag zu machen. Schlimmer noch, sie hatte darauf bestanden, das Klippen-Ritual zu inszenieren, von dem sie so oft gelesen hatte, und das Paar war nach Beachy Head gefahren, als der Mond prall und voll gewesen war. Beide trugen Abendgarderobe; das schien den Satin-Miedern und den samtenen Kniebundhosen am nächsten zu kommen, die in den Liebesromanen so häufig erwähnt wurden. Hätten andere Dinge dem Anlass – oder dem Stelldichein, wie Vera es nannte – entsprochen, so hätten durchaus ihre kühnsten Träume wahr werden können. Doch das taten andere Dinge nicht. Der Vollmond war irgendwo dort draußen, trat jedoch nur sehr sporadisch in Erscheinung, da er größtenteils hinter tief hängenden Wolken verborgen war. Vera Ponson weigerte sich, enttäuscht zu sein. Für sie sah es so aus, als jagten diese Wolken eilig dahin, und der Wind oben auf der Klippe wehte hundertsechzig Meter über einer mutmaßlich
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