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Land Spielen

Land Spielen

Titel: Land Spielen
Autoren: Daniel Mezger
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angestrengter, betrachtet die großen, runden Augen, die geschlossen und also nur Lider sind. Sie betrachtet die nach vorne gestreckte Oberlippe, die beinahe den weißen Ärmel des Strampelanzugs berührt. Selig schläft das kleine Ding, während Ada unberührt danebensteht und nun doch langsam den Herzschlag im Hals spürt. Es ist die Angst und nicht die Liebe, die da pocht, Ada kennt den Unterschied, fürchtet ein Missverständnis ihres Körpers. Sie wartet auf das warme Gefühl im Bauch, das sich sonst mit Gewissheit einstellt, auf dieses Kribbeln im Nacken. Sie wartet, dass sie nicht mehr anders kann und dieses niedlichste Wesen der Welt einfach auf die Stirn küssen muss. Wartet, dass sie ihm Lieder vorsingen muss, dass sie uns herbeirufen und uns verkünden muss, dass sie beschlossen habe, diesen kleinen Menschen zu behalten, und ob sie ihn in den Arm nehmen dürfe.
    Wir würden sagen: »Später.« Wir würden lachen über unsere Kleinste. Wir würden uns freuen über ihre strahlenden Augen, die wir so gut kennen. Wir haben sie gesehen, damals, als die Schafe kamen, wir wissen, wie sie aussahen, als Ada die Kaninchen streichelte, wir kennen den Blick, mit dem sie dem Försterjungen hinterherschaute.
    Ada weiß es selbst, wartet auf den Moment, wo die Pupillen sich weiten und sich dieses Gefühl von Glück gepaart mit Melancholie im ganzen Rückenmark ausbreitet. Es muss am Tag liegen, an der anstrengenden Heuarbeit, zu der sie am liebsten zurückkehren möchte. Am liebsten möchte sie heulen, den Kinderwagen wegstoßen, den Inhalt, der sie so verunsichert, auskippen. Sie möchte dieses Wesen doch lieben, unternimmt einen weiteren Versuch, streckt die Hand in den Wagen, streichelt über das seidigste Haar, über das sie je gestreichelt hat, fährt mit dem Zeigefingerrücken über die weichste Wange, über die sie je gefahren ist. Das hübscheste Wesen nimmt den Liebkosungstest zum Anlass, um den kleinen, zahnlosen Mund zu einem kleinen, kreisrunden O zu formen. Das Gähnen ist nur mäßig überzeugend, dann zieht sich das Kinn wieder zurück, die Oberlippe legt sich wieder auf die untere. Noch hat Ada nichts geweckt, weder das Baby noch das Sich-Verlieben.
    Wäre sie Fabian, würde sie jetzt aufspringen, würde an unserer Heugabel zerren, würde rufen, dass ihr langweilig sei. Sie könnte Ablösung fordern und mit neu aufgeflammtem Enthusiasmus Grashaufen zerpflücken und verteilen. Wäre sie Ralf, würde sie uns erinnern, dass wir ein Team sind, dass jetzt einmal ein anderer von uns den Wachdienst im Schatten der Scheune übernehmen müsse. Als Moritz würde sie Reden schwingen über Rollenverteilung und Gleichberechtigung. Als Vera würde sie sich schweigend zu den Mähern und Zettlern gesellen, bis diese von allein auf die Idee kämen, zu fragen, was denn los sei. Aber Ada ist nicht Fabian, sie ist auch nicht Ralf, sie ist nicht Vera, ist nicht Moritz. Ada ist die Verlieberin, Ada darf keine Schwäche zeigen, sie hat eine Aufgabe, hat eine Verpflichtung. Und das hier ist kein Spiel, das hier ist der Ernstfall.
    Ada steht noch immer neben dem Kinderwagen, das Kindchenschema hat noch immer keine Wirkung gezeigt.
    Ada braucht eine Pause, muss darüber nachdenken, muss zu Kräften kommen. Hier ist kein Kryptonit, das ihre Stärke raubt, es kann nur die Hitze sein, die Sonne, wahrscheinlich ist sie krank, Grippen gibt es auch im Sommer, und auch Superhelden haben schlechte Tage. Sie muss von hier weg, sie muss ins Haus, ins Kühle. Muss unter Ralfs Bett nach den Heften suchen und darin nach einer Antwort.
    Aber sie kann hier nicht weg, sie darf sich nichts anmerken lassen.
    Solange das Baby schläft, muss Ada danebenstehen und es bewundern. »Aufpassen« haben wir das genannt.
    Ada macht ihre Aufgabe gut, sie steht da, bis das Baby plötzlich erwacht und schreit und weint. Ada ruft uns, wir legen die Sense erneut weg, stoßen die Heugabel in die Erde und kommen zu Hilfe, nehmen das Kind aus dem Kinderwagen und in den Arm. Es schluchzt und strampelt, scheint noch verwirrt zu sein, dass es hier im Scheunenschatten und nicht zu Hause bei seiner Mutter ist. Oder darüber, dass ihm gerade jemand einen Ohrdreher verpasst hat.

Foto: Alexander Gheorghiu
    Daniel Mezger (*1978), aufgewachsen in den Glarner Bergen. Er absolvierte eine Schauspielausbildung an der Berner Hochschule für Musik und Theater. Ab 2001 mehrere Jahre am Jungen Theater Göttingen engagiert. Seit 2004 arbeitet er als freier Autor, Musiker und
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