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Kreuzweg

Kreuzweg

Titel: Kreuzweg
Autoren: Diane Broeckhoven
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Wagentürzuschlagen hörte, rannte ich nach oben. Ich hatte keine Lust, jetzt noch ein wenig über diese unwirkliche Zusammenkunft mit ihm zu plaudern. Vor lauter Eile, alleine zu sein, vergaß ich, den Riegel vorzuschieben.
    Ich zog mich schnell aus, stand gerade vornübergebeugt im Slip neben dem Bett und suchte unter meinem Kopfkissen tastend nach dem Nachthemd. Genau in diesem Moment schwang mein Vater die Tür auf. Ein paar unendlich lange Sekunden blieb er, schwer atmend und mit rot angelaufenem Gesicht in der Türöffnung stehen, die Hand genau über dem Schloss am Türpfosten. Dann begann er jämmerlich zu heulen, wie ein angeschossenes Tier. Er schrie den Namen meiner Mutter. Dann meinen. Mit zwei dröhnenden Schritten stand er plötzlich neben mir, klammerte sich an mir fest. Mit trüben Augen sah er einfach durch mich hindurch. Auf einmal hatte er dutzende Hände. Wir rangen miteinander, doch ich verlor den Streit.
    Es ist mir nie gelungen, zu beschreiben, benennen, begreifen, was danach geschah. An Intensität und Schwärze übertraf es alles, was je zuvor geschehen war. An den Dienstagen, während meine Mutter den Chor dirigierte. Noch heute, so viele Jahre später, finde ich keine Worte für diesen Ausbruch alles Bösen, für diese Katastrophe.

SECHSTE STATION:
Veronika reicht J. das Schweißtuch.
    Am nächsten Morgen wurde ich schon früh vom sommerlichen Gezwitscher der Amseln geweckt. Die Sonne schimmerte durch die Vorhänge hindurch, zog ihre wohlvertrauten, gelblichen Lichtstreifen am Fußende meines Bettes. Ich hörte die Müllabfuhr die Straße entlangfahren, abbremsen, wieder anziehen. Männerstimmen. Dumpfes Aufklatschen.
    Das Schloss an meiner Tür war verriegelt. Es glänzte funkelnagelneu. Ich trug mein hellgrünes Nachthemd, ein ausgeleiertes T-Shirt mit Bärchenmotiv, das in einer Sprechblase «
Good Night
» wünschte. Alles wirkte so schrecklich alltäglich. Also beschloss ich, dass das alles überhaupt nicht passiert war. Dass ich das bloß geträumt hatte. Ich zog einen schweren Vorhang vor den Albtraum, der mich mit Scham erfüllte, und kehrte ihm den Rücken.
    Als ich aufrecht neben meinem Bett stand, spürte ich jeden einzelnen Muskel. Überall tat es weh, vom Nacken bis hin zu den Knöcheln. Auf meinem rechten Oberschenkel entdeckte ich einen blauen Fleck, von der Größe einer Hand und dunkel wie Gewitterluft. Ein Waschlappen trieb in meinem Waschbecken, das zur Hälfte mit flockigem Seifenwasser gefüllt war. Ich ließ es ablaufen und schrubbte das weiße Porzellan, bis es glänzte. Dann schlüpfte ich in meinen Bademantel und ging ins Badezimmer.Ich drehte den Schlüssel zweimal im Schloss herum und nahm eine ausgiebige warme Dusche. In frischen Kleidern, die feuchten Haare ordentlich gekämmt, ging ich nach unten. Es war ein ganz normaler Tag. Auf der Treppe roch ich Kaffee. Mein Vater las am Küchentisch Zeitung, oder besser gesagt, er starrte auf die Buchstaben. Ich setzte mich ihm gegenüber, schenkte mir Kaffee ein und fragte ihn, ob er auch noch eine Tasse wolle. Er nickte. Dann sah er mich an. Mit fiebrigem Blick und blutunterlaufenen Augen. Plötzlich fühlte ich Mitleid. Mit ihm!
    «Es tut mir leid», stammelte er. Die Worte schusserten wie Murmeln zwischen der Butter und dem Konfitüreglas hin und her. Es tue ihm leid. Das würde nie wieder vorkommen. Es müsse unter uns bleiben. Er sei nicht er selbst gewesen. Wer denn sonst, fragte eine Stimme in mir. Ein Werwolf etwa?
    Obwohl ich nicht richtig hinhörte, drangen Fetzen dessen, was er sagte, in meinen leeren Kopf hinein, wo sie sich für immer festgesetzt haben. Hinter dem Vorhang. Seitdem ist der Albtraum nie wieder zur Sprache gekommen.
    Ich toastete mir eine Scheibe Brot, belegte sie mit Schnittkäse, trank ein Glas Orangensaft und löffelte einen Becher Joghurt aus. Wortlos. Wie ein Automat. Unterdessen blickte er mich die ganze Zeit an wie ein Hund, der um Aufmerksamkeit bettelt. Oder um Vergebung? Erst nachdem ich mein Frühstück beendet hatte, sprach ich es aus: dass ich meine Sachen packen und bei Oma Gleiswohnen würde. Jetzt, sofort, ja, noch am Vormittag. Im Kühlschrank stünden noch Makkaroni, mit Käsesoße. Und ein Stück Kuchen. Das mit dem Essen heute wäre also kein Problem.
    «Was wird Oma sagen?», fragte er laut. Alles an ihm war pure Angst.
    «Frag dich mal lieber, was ich ihr sagen werde», gab ich zur Antwort. Er schaute noch immer wie ein Hund. Ein ängstlicher, geprügelter Hund.
    Mit
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