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Kreuzweg

Kreuzweg

Titel: Kreuzweg
Autoren: Diane Broeckhoven
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darunter litt. Auf Feiern, die damals noch Partys hießen, wurde ich nicht eingeladen. Das Leben ist ein Fest, kein Platz für Kummer. Ich protestierte nicht, machte mich stattdessen unsichtbar.
    Notgedrungen pendelte ich zwischen Omas Haus und dem meines Vaters hin und her. Ich passte auf, dass er nicht da war, wenn ich mal Sachen für die Schule oder Kleidung abholen kam. Manchmal lag dann ein Brief auf dem Tisch. Ob wir noch einmal zusammen essen wollten? Nächste Woche, schrieb ich auf einen Antwortbrief, habe gerade ziemlich viel zu tun für die Schule. Oder, ich kann Oma nicht zu lange allein lassen.
    Diese Zettelchen, eine Auswahl meiner höflichen Ausflüchte, habe ich lange aufgehoben. Es war keine einzige Notiz darunter, auf der «Scheißvater, ich hasse dich!» stand. Dafür war ich zu gut erzogen.
    Manchmal berichtete Oma Gleis mir, Papa sei vorbeigekommen. Wie schade er es fand, dass ich nicht da gewesen sei. Mir schien, als passe er den Moment ab, bis er mich mit dem Rad hatte wegfahren sehen, ehe er klingelte. Wir wurden Meister im Aufrechterhalten des Scheins. Vor den anderen, aber auch vor uns selbst.
    Es war für mich ein kleiner Triumph, dass ich sie alle im Französischunterricht haushoch übertraf. Sogar den Lehrer. Zwar trauerte ich und war irgendwie bedauernswert, doch wenn es darauf ankam, Französisch zu sprechen oderzu schreiben, richtete ich mich auf, und keiner konnte mehr über mich hinwegsehen. Dann war ich keine
quantité négligeable
. Ob ich keinen Trick kenne, wie er die unregelmäßigen Verben in seinen Schädel hineinbekommen könne, fragte Matteo mich eines Tages, denn für ihn war das alles Chinesisch. Er war der Einzige in der Klasse, der mich direkt ansprach. Ich bot ihm an, zusammen zu üben, und so radelten wir eines Freitagnachmittags gemeinsam zu meinem Elternhaus, wo meine französischen Schulbücher aus dem Internat standen. Während er in der Küche wartete, suchte ich in meinem Zimmer nach dem Grammatikbuch. Wieder unten angekommen sah ich, wie er ganz nah mit dem Gesicht vor einer Reihe winziger Gemälde meines Vaters stand, die zum Trocknen auf der Anrichte lehnten: eingezäunte Tiere im Zoo, Menschengruppen. Kinder, die an rosafarbener Eiscreme leckten, gestreifte Sonnenschirme, viel zu lange Giraffenhälse aus gelbbraunen Farbflächen. Malbuchkunst. Alles fein säuberlich innerhalb der Umrisse.
    «Lustig», fand Matteo. «Hast du die gemalt?»
    Beleidigt antwortete ich, ich hätte in meinem Alter doch Besseres zu tun …
    «Dann hast du sicher ein Brüderchen oder eine kleine Schwester mit Talent, oder?»
    «Ich bin Einzelkind, und das ist das Hobby meines Vaters.»
    «Na, besser einen Vater mit einem kindischen Hobby als überhaupt keinen Vater», seufzte Matteo. Seiner war vor zehn Jahren an der Krankheit gestorben, deren Namenman damals noch nicht aussprechen durfte. Seine Mutter war mit drei kleinen Jungs zurückgeblieben. Ich erzählte, wie meine Mutter vor ein paar Monaten von einer Minute auf die andere aus meinem Leben verschwunden war.
    «Das heißt, du kümmerst dich jetzt ein wenig um deinen Vater?», nahm er an.
    «So würde ich es nicht nennen», sagte ich. «Ich wohne zum Teil hier, zum Teil bei meiner blinden Oma. Ich verstehe mich nicht besonders gut mit meinem Vater.»
    «Liegt bestimmt an der Pubertät», lachte Matteo, während er eins der kleinen Gemälde in die Hand nahm, das eine aufgeplusterte Eule zeigte, die mit nur einer Klaue eine Maus im Griff hielt. Als ich die Kühlschranktür öffnete, um etwas zu trinken herauszunehmen, fiel mir auf, dass er blitzsauber war und sämtliche Fächer gefüllt waren. Mit Plastikbehältern, die mir nicht bekannt vorkamen, und Flaschen mit gesundem Obststaft. Im Gemüsefach lagen Auberginen und eine Paprika, außerdem ein großes Stück Braten in durchsichtiger Folienverpackung.
    Während wir am Tisch saßen, das französische Schulbuch und das Eulenbild zwischen uns, kam mein Vater plötzlich in die Küche. Er sah mich forschend an.
    «Das ist Matteo, mein Freund», behauptete ich spontan.
    Matteo führte theatralisch beide Hände auf die Brust und verdrehte kokett die Augen. Ab diesem Augenblick war er auch ein Freund.
    Er machte Papa ein Kompliment für seine Malerei, woraufhin mein Vater stolz verkündete, er habe bald im Rathaus eine Ausstellung. Er zeigte uns noch ein paar seinerWerke, vor allem Porträts. Unter anderem ein Triptychon von einer kreidebleichen Frau mit glattem schwarzem Haar. Vom Typ
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