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Verbotene Wege - Link, C: Verbotene Wege

Verbotene Wege - Link, C: Verbotene Wege

Titel: Verbotene Wege - Link, C: Verbotene Wege
Autoren: Charlotte Link
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    Im Hafen von King’s Lynn herrschte aufgeregte Betriebsamkeit. Trotz der heißen Mittagssonne hatten sich Scharen von Menschen am Ufer des Flusses eingefunden, der vom Meer her in die Stadt führte und dessen Wasser in schmutzigbraunen Wellen gegen die hohen steinernen Hafenmauern schwappte. Am wolkenlosen Himmel zogen Möwen schreiend ihre Kreise und erschreckten damit ein paar Pferde, die mit hängenden Köpfen, vor Kutschen gespannt, im Schatten einiger Häuser warteten. Matrosen fluchten lautstark, während sie Kisten herumschleppten, Leute beiseite schoben oder sich Wassereimer über die Köpfe schütteten, um sich für wenige Minuten abzukühlen. Es stank grauenhaft nach faulendem Fisch und altem, angeschwemmtem Tang. Die Sonne stach erbarmungslos, aber immer noch langten neue Kutschen oder einfache Bauernwagen an, gesellten sich Menschen zu der wartenden Menge. Die vornehmen Damen hielten spitzenverzierte Sonnenschirme in der Hand und fächelten sich mit großen Seidenfächern Luft zu, die einfachen Frauen hatten sich Kopftücher umgebunden und hockten sich oftmals auf die Erde, weil sie nicht länger stehen konnten. Hin und wieder fiel jemand in Ohnmacht, ohne daß dies große Aufregung hervorgerufen hätte. Bei derartigen Gelegenheiten gab es immer einige Leute, die nicht durchhielten, die Reichen, weil sie es nicht gewöhnt waren, so lange zu stehen, die Armen, weil sie nie genug zu essen hatten. Aber es wäre keinem eingefallen, wegen eines kleinen Schwächeanfalls nach Hause zu gehen. Man wurde in den Schatten geschleift, mit einem Riechfläschchen oder mit kaltem
Wasser zu neuem Leben erweckt und konnte sich dann wieder unter die Wartenden einreihen.
    Es war der 14. Juli 1789, ein Tag, der bedeutsam werden sollte in der Geschichte Europas, der aber über England als einer von hundert klaren Hochsommertagen aufgestiegen war und nun in einen brütendheißen Nachmittag überging, ein Tag, an dem alle Wiesen blühten, Vögel sangen, Grillen zirpten und der Sand am Meer hell und weiß leuchtete. Daß im fernen Paris das Volk auf die Straßen ging und in rasender Wut gegen die Staatsmacht die berüchtigte Bastille stürmte, daß alles, was über Revolution und Umsturz in der letzten Zeit gesprochen worden war, blutige Wirklichkeit anzunehmen begann, daß ein Ereignis unmittelbar bevorstand, das Europa verändern sollte, das alles wußten die Menschen in England an diesem Tag noch nicht, und sie dachten auch gar nicht darüber nach. Denn heute erwarteten sie ein viel wichtigeres und spannenderes Abenteuer. Im Hafen von King’s Lynn sollte nach allen Berechnungen am Nachmittag die »Seagull’s Flight« eintreffen, kein gewöhnliches Schiff, das zwischen den europäischen Häfen umherkreuzte, sondern eines, das unzählige Meilen über den Atlantischen Ozean zurückgelegt hatte. Ein Schiff aus Amerika.
    Die Menschen in der Grafschaft Norfolk erlebten eine solche Ankunft nur selten. Schiffe aus Amerika steuerten meist die großen Häfen an der Südküste an, Plymouth oder Southampton oder Portsmouth. Diesmal jedoch sollte eine große Ladung Baumwolle aus Georgia für Kaufleute in Norfolk gebracht werden, und daher würde die »Seagull’s Flight« in King’s Lynn anlegen. Weswegen sich aber die vielen Menschen im Hafen versammelten, der Hitze trotzten und stundenlang warteten, geschah weniger um des Schiffes und seiner Baumwolle willen, als vielmehr wegen der zu erwartenden Passagiere. Jedes Schiff aus der Neuen Welt hatte Reisende an Bord, die mehr bestaunt wurden als irgendwelche verwunderliche exotische Wesen. Amerika faszinierte jeden Europäer. Es war so fern, so fremd, es sollte so groß sein, weit, abenteuerlich und bunt. Ein Land voller Versprechungen und Gefahren, und mochte man noch so verachtungsvoll
von den Menschen sprechen, die in die unzivilisierte Wildnis gingen, insgeheim brachte man ihnen doch Bewunderung entgegen. Natürlich hatte jeder patriotische Engländer die Unabhängigkeitserklärung und den darum geführten Krieg verurteilt, aber auch dies geriet nun, nahezu zwanzig Jahre später, allmählich in Vergessenheit.
    »Die Leute von der Seagull’s Flight können glücklich sein, an einem so schönen Tag hier anzukommen«, meinte eine alte Bauersfrau, die sich einen der begehrten Plätze unter einem schattigen Baum erkämpft hatte, »sie müssen doch denken, sie sind im Paradies!«
    »Verflucht armseliges Paradies«, entgegnete ein Mann, der neben ihr stand, »schau dich doch um! Die
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