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Kreuzweg

Kreuzweg

Titel: Kreuzweg
Autoren: Diane Broeckhoven
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meiner Sporttasche voller Kleidung plus einem Rucksack voll Schulsachen fuhr ich kurz darauf mit dem Rad zu Oma Gleis. Sie hatte mir einen Schlüssel für den Vordereingang gegeben, weil ich ja, seit es den Riegel gab, nicht mehr unangekündigt von hinten hereinspazieren konnte. Oma saß in ihrem Sessel, zwei saubere Handtücher und zwei Waschlappen auf den Knien und wartete auf die Gemeindeschwester, die helfen kam.
    «Sind Sie das, Schwester?», fragte sie, als ich ins Wohnzimmer trat.
    Ich kniete mich mühsam vor sie hin und bat sie, ob ich eine Zeit lang bei ihr wohnen dürfe. Ich könne ihr helfen, zum Beispiel mit den Besorgungen oder auch beim Kochen. Wir beide würden es uns so richtig gemütlich machen!
    Sie legte mir die Hand auf den Kopf und kraulte mir mit sanften Fingerspitzen das Haar. Da brach ich zusammen. Meine Schultern zuckten. Davon fing mein ganzer Körper wieder zu schmerzen an. «Ruhig, mein Kind. Sei ganz ruhig …», tröstete sie mich. Sie trocknete mir dasGesicht, erst mit einem braunen, dann mit einem gelben Handtuch. Von dem rauen Stoff bekam ich brennende Striemen auf den Wangen. Oma Gleis hielt nichts von Weichspülmitteln.
    Ob ich mich mit meinen Vater gestritten hätte? Sie habe nicht das Recht zu urteilen und gewiss nicht in dieser schwierigen Phase, aber er sei schon immer verschlossen wie eine Muschel gewesen, fand sie. Einer, der alles in sich hineinfraß. Ein Mann mit einer Gebrauchsanweisung. Das hatte sie gleich gemerkt, als ihre Tochter ihn zum ersten Mal mit nach Hause gebracht hatte. Bestimmt wusste er sich nicht zu helfen in seinem Kummer. Und dann gab es ja auch noch eine Tochter, die es selbst nicht leicht hat. Sie habe die Spannung gestern Abend gespürt. Irgendwann musste es mal eskalieren, das war zu erwarten. Die Situation werde sich schon von selbst wieder beruhigen. Wir bräuchten einfach etwas Zeit. Wir alle. Und bis dahin könne ich gern bei ihr wohnen.
    Allmählich beruhigte ich mich.
    «Guten Morgen, ich bin’s!», tönte es aus dem Flur. Die Ortskrankenschwester kam herein und wartete diskret ab, bis ich mich wieder ganz im Griff hatte. Während ich trockene Handtücher holen ging, hörte ich, wie sie verschwörerisch zu Oma sagte, zu Hause habe sie auch zwei, die mitten in der Pubertät steckten. Sie kenne das, diese Gefühlsausbrüche, die Stimmungsschwankungen. Bei Mädchen sei das übrigens noch schlimmer als bei Jungen.
    Mit steifen Beinen stieg ich die Treppen zu meinemMuttermuseum hinauf. Ich wagte es kaum, die Fotos anzusehen. Von tiefer Scham erfüllt, senkte ich den Blick. Vielleicht habe ich sogar «entschuldige» gemurmelt. Ich legte mich aufs Bett, lauschte auf die vorbeifahrenden Züge, immer zwei kurz hintereinander und dann wieder eine ganze Weile nichts. Ich schlief ein und irrte durch eine undurchdringliche Düsternis. Es war bereits Nachmittag, als ich wieder hinunterging, wo Oma in ihrem Sessel eingenickt war.
    «Bist du noch da, Kind?», erkundigte sie sich.
    Ich erinnerte sie daran, dass ich ein Weilchen bei ihr wohnen würde. Sie hatte es vergessen.

SIEBTE STATION:
J. fällt zum zweiten Mal unter dem Kreuz.
    «Wir heißen heute zwei neue Schüler in unserer Abschlussklasse willkommen», verkündete Frau Mortelmans, genannt «Mops», am ersten Schultag. «Einer der beiden ist allerdings nicht wirklich neu, sondern wieder zurück.» Also ich. Der einzig wirkliche Neuzugang war Matteo, ein blonder Lockenschopf mit italienischen Vorfahren. Seinen Nachnamen, der irgendwie nach Eiscreme und Oper klang, habe ich vergessen. Stachiachello? Macchiavelli? Er trug Sandalen – Jesuslatschen – an seinen braunen nackten Füßen, dazu ein fuchsiafarbenes T-Shirt, das entweder zu heiß gewaschen worden war oder von seiner kleinen Schwester stammte. Kein Mitläufertyp, so viel war klar.
    Meine ehemals beste Freundin hatte sich im vergangenen Jahr um hundertachtzig Grad gewandelt. Sie war blonder und gebräunter, als ich sie in Erinnerung hatte, kicherte und tuschelte dauernd über Sachen, nach denen mir nicht der Sinn stand. Zu Beginn meiner Internatszeit hatten wir uns gegenseitig noch ein paar Mal geschrieben, nach und nach war unser Briefwechsel aber eingeschlafen. Wir haben den Faden nie wieder da anknüpfen können. Wir waren inzwischen zu weit voneinander fortgetrieben. Meine anderen Klassenkameraden ließen mich links liegen, weil sie keine Ahnung hatten,was man zu jemandem sagen soll, der gerade die Mutter verloren hat und ganz offenbar
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