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Kreuzweg

Kreuzweg

Titel: Kreuzweg
Autoren: Diane Broeckhoven
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er. Kurz kam der Lehrer in ihm wieder zum Vorschein.
    Wir suchten gemeinsam nach einem passenden Heim für ihn. In seinen klaren Momenten sahen wir Prospekte durch, er durfte sogar einen Schnuppertag machen. AlsPraktikant, meinte er, und fand sich damit ab, dass sein Leben sich fortan in der Gesellschaft alter Menschen abspielen würde. «Ach was, ich habe in meinem Leben genug Kinder gesehen», sagte er. «So ist es nun mal. Und du bekommst deine Freiheit zurück.»
    In den Wochen bevor er definitiv dort einzog, räumte ich die Schänke leer und gab den Erinnerungen an meine Mutter und Großmutter einen Platz. Seine kleinen Gemälde sortierten wir gemeinsam, wählten ein paar für sein neues Zimmer aus. Er habe in den letzten Jahren nicht mehr gemalt, meinte er, es sei ihm zu viel Fieselarbeit geworden. Er habe nicht mehr die nötige Geduld gehabt, und seine Hände zitterten. Außerdem, da er jetzt eine berühmte Tochter hatte, die wandgroße Gemälde machte, die Leidenschaft und Feuer versprühten, kamen ihm seine eigenen Bilder auf einmal albern und mickrig vor.
    «Und doch waren sie auf ihre Weise nett», hörte ich mich selbst sagen.
    Später habe ich ungefähr dreißig Stück mit nach Paris genommen, da ich mit dem Gedanken spielte, sie irgendwann zusammen mit meinem eigenen Werk auszustellen. Vom Keksdosenformat bis zur Zimmerbreite, Kleinbürgerlichkeit versus Grenzenlosigkeit. Die Tochter, die ihrem Vater den Rang ablief.
    Das Triptychon mit der jungen Geisha in den Händen haltend, fragte ich ihn, wieso sie ihn eigentlich verlassen hatte. Sie wirkten doch wie ein gutes Paar, oder? Er zuckte mit seinen kantigen Schultern. Er wisse es nicht mehr.Vielleicht ließ es sich doch nicht so leicht mit ihm leben? Er hatte sie seitdem nie wieder gesprochen. Sie war einfach aus seinem Leben gegangen. Bei Nacht und Nebel, sagte er, und ich konnte ihm ansehen, dass er über den Ausdruck nachdachte. «Sie war die zweite Frau in meinem Leben, die mich verlassen hat. In gewisser Weise hatte Mama mich ja auch im Stich gelassen, so plötzlich … Und dann auch noch du», sagte er. Es klang bitter.
    Tagsüber schlief er viel, was er aber stets abstritt. Er und schlafen? Ganz und gar nicht! Er hatte gerade vor sich hin gedöst, war ein paar Minütchen eingenickt, legte sich lang, machte ein Nickerchen. Seinen Mittagsschlaf nannte er Siesta. Das täten sie in Spanien auch, und es sei sehr gesund.
    In den freien Stunden streifte ich ziellos durchs Dorf, an den Stationen meiner Jugend vorbei. Da stand das Haus meiner Oma, viel weißer und schmaler als in meiner Erinnerung. Es hatte einen Glasanbau bekommen, in dem ich Dreiräder und einen Korbpuppenwagen erkennen konnte. Die Weide war verschwunden. Ein von Pilzen bewachsener Baumstumpf war alles, was davon übrig geblieben war. Ein alter Mann in einem Overall erklärte mir, Schlangenweiden hätten kein tiefes Wurzelwerk, weshalb sie bei einem Sturm leicht umfallen könnten. Der neue Hauseigentümer hätte das Risiko nicht eingehen wollen und daher den Baum gefällt.
    Ich erzählte ihm, dass ich die Weide selbst gepflanzt hatte, als ich noch ein junges Mädchen war. Ich muss soum die siebzehn gewesen sein, etwa zur selben Jahreszeit, ja. Es war so ein Zweig gewesen, an den man zu Ostern ausgeblasene Eier hängt. Damit gab ich einem Wildfremden ein Stück meines Geheimnisses preis. Den sichtbaren Teil: den Stamm, die Äste und die Blätter. Die Wurzeln und was sich darunter verbarg, waren von der Erde aufgenommen und würden auf ewig unbesprochen bleiben.
    Wenn ich an dieser Stelle mit dem Rad vorbeifuhr, nickte ich immer: Hallo Kleiner, sagte ich dann. Hallo, dreiunddreißigjähriger Mann.
    Der Bahnhof! Es zog mich wie von magischer Hand dorthin. Manchmal nahm ich auf einem der stahlblauen Sitze Platz, die die Holzbank von damals ersetzt hatten. Fetzen aus dieser unwirklichen Nacht zogen vor meinem inneren Auge vorüber, als ginge es um jemand anderen. Ich war seltsam losgelöst von meiner eigenen Geschichte, obwohl sie noch tief in mir verborgen lag.
    Nach außen hin konnte ich ruhig auf so einem Stuhl sitzen. Bis wieder ein Zug vorbeiraste und ich an mich halten musste, um nicht laut loszuschreien. Denselben Urschrei, wie damals in Omas Garten, ein Aufschrei der Verzweiflung, der Flügel bekommen hatte und heute noch manches Mal wie eine rauschende Fledermaus in der Peripherie meiner Träume herumflatterte.
    Die Erinnerung an das samtig weiche Stirnchen ist bis in alle Ewigkeit
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