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Kreuzweg

Kreuzweg

Titel: Kreuzweg
Autoren: Diane Broeckhoven
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unterdrücktes Schluchzen. Vor allem an den ersten Abenden.
    Wenn ich mich in meinem Bett zusammengerollt hatte,sah ich mit geschlossenen Lidern unsere Küche vor mir. Immer dasselbe Bild, das nach und nach lebendig wurde. Ich sitze an der Breitseite des Tisches, es ist für drei Personen gedeckt. Die Farben des Blumenmusters auf dem Tischtuch scheinen zu tanzen. Ich mache gerade meine Hausaufgaben, blättere in der Zeitung, lese. Mama, die sich um das Essen kümmert, steht vor der Anrichte. Gleich wird mein Vater von der Arbeit heimkommen. Ein Schuldirektor verlässt als Letzter das Gebäude, genau wie ein Kapitän sein Schiff. Vaters Schatten sitzt jedoch schon seit fünf Uhr am Kopfende des Tisches.
    Immer zischte oder brutzelte etwas in den Pfannen, alles roch so vertraut, nach zu Hause. Auf der ganzen Welt gab es nichts, was ich mehr liebte, als den breiten Rücken meiner Mutter. Früher behauptete sie, sie sehe alles, weil sie überall Augen habe. Auch auf dem Rücken. Und ich glaubte ihr, stellte mir auf beiden Seiten ihrer Wirbelsäule zwei parallel laufende Augenreihen vor. Etwa so wie die Zitzen unseres Hundes, nachdem er, das heißt sie, sechs Junge bekommen hatte. Geworfen, meinte mein Vater. Unterrichten war seine Berufung. Geworfen. Persönlich fand ich, dass die Geburt der Welpen eher wie ein Schieben vor sich gegangen war, aber werfen? Mit angehaltenem Atem und in respektvollem Abstand hatte ich über den Rand des Körbchens hinweg dabei zugesehen, in der Hoffnung, es ginge bei Menschen weniger schmierig zu.
    Ich nahm mir vor, eine vorbildliche
pensionnaire
zu werden. Um dem Ganzen Kraft zu verleihen, schrieb ichgleich auf die erste Seite meines Tagebuchs, das mir meine Mutter mitgegeben hatte: «1. September 1975. Hiermit gelobe ich feierlich …» Ein schwülstiger Auftakt, für den man sich später schämt.
    Ich hatte es also ausschließlich mir zu verdanken – nicht zuzuschreiben –, dass ich in diesem französischen Internat war, 176 Kilometer von zu Hause. Ich hatte es ihnen selbst vorgeschlagen, und es hatte mich monatelange Überzeugungsarbeit gekostet, bis ich meine Eltern so weit hatte. Kurz vor den großen Ferien, als abzusehen war, dass mein Zeugnis genauso gut war wie sonst, hatte ich es geschafft. Klopfenden Herzens breitete ich eines Abends die Folder samt Schulordnung des
Institut de la Vierge Marie pour jeunes filles
auf dem Küchentisch aus und erzählte ihnen, wie ich alles selbst telefonisch angefordert hatte, in meinem besten Französisch. Mit rotem Kopf, aber fest entschlossen, hielt ich ein Plädoyer für meine Zukunft. Ich hielt daran fest, dass diese Schule meine einzige und endgültige Wahl sei, dass sie mich nicht davon abhalten dürften. Die Schwestern der heiligen Jungfrau Maria seien ja so freundlich. Und so modern. Ich würde mich dort sicher zu Hause fühlen. Ich wollte nichts lieber, als die letzten beiden Jahre der Oberstufe auf einem französischen Internat zu verbringen. Die Sprache würde ich im Handumdrehen lernen, was wiederum später ein enormer Vorteil sein würde, wenn ich studieren ginge – in Paris – an der Sorbonne.
    Mein Vater spottete, ich solle vielleicht besser Anwalt werden. Meine Mutter bekam feuchte Augen, aber ich bemerkte, dass sie langsam weich wurde. Sie gab zu, dassich kein Kind mehr war. Dass sie einerseits stolz auf mich war, andererseits aber eben auch traurig. Was würden die Verwandten dazu sagen oder die Nachbarn? Wer schickte schon seine einzige Tochter mit sechzehn Jahren ins Internat, weit weg von zu Hause, wenn sie nicht mitten in einer Pubertätskrise steckte? Alle werden denken, sie wären mit der Erziehung überfordert. Das passte ihr nicht, gab sie ehrlich zu. Mein Vater sagte danach noch ein paarmal Ja, woraus schließlich ein zögerliches Tja wurde. Danach noch ein paarmal Nein, was sich ziemlich nasal anhörte. Mitten auf seiner Stirn pulsierte eine Ader, ein bläuliches Rinnsaal, das unter seinem Haaransatz verschwand. Er war wütend.
    Knapp zwei Wochen später fuhr ich zusammen mit meiner Mutter zum Internat, um mich einzuschreiben. Ich biss mir auf die Zähne, als ich zwischen ihr und einer Schwester in ziviler Kleidung durch die langen, leeren Gänge ging.
    «Ein bisschen Heimweh gehört mit dazu, gerade am Anfang», sagte die Nonne, als ich mich schnäuzte, was in dieser unwirklichen Stille wie ein vorüberziehendes Gewitter klang. Ich wollte ihr erklären, es sei bloß eine aufkommende Erkältung, wusste aber nicht,
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