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Kreuzweg

Kreuzweg

Titel: Kreuzweg
Autoren: Diane Broeckhoven
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wie man das auf Französisch sagt.
    Marieke, die sich ab sofort Marique nennen ließ, wurde schon nach kurzer Zeit eine Freundin. Sie war auch ein Neuzugang, und uns verband die Tatsache, dass wir beide erst unseren Weg suchen mussten. Sie war die älteste von sechs Kindern. Ihre Eltern hatten ein Hotel an der Küste,und sie war dazu bestimmt, es später zu übernehmen. Sie wiederholte ständig, wie erleichtert sie sei, endlich einmal ihre Ruhe zu haben. Endlich Zeit für sich selbst, ihre Hausaufgaben, ein Buch, eine Partie Schach oder einen Spaziergang durch den immer halbdunklen Klostergarten. Keine fünf Geschwisterchen, die ihr am Rockzipfel hingen, keine Triefnasen, Petzereien oder aufgewärmte Pampe aus der Hotelküche. Was für ein Luxus! So viel war sicher, sie wolle keine Kinder.
    Ungefähr zwanzig Jahre nach unserer kurzlebigen Freundschaft entdeckte ich während eines Spaziergangs am Meer ein Fischrestaurant namens Chez Marique. Ich ging dort essen. Während ich das Muschelfleisch aus der Schale herauslöste, konnte ich den Blick nicht von der schwarz gekleideten Geschäftsführerin wenden. War sie das? Ich hatte sie runder und blonder in Erinnerung. Ich habe nicht den Mut gehabt, sie anzusprechen. Früher war für mich gestorben. Abgebrochen wie ein vertrockneter Zweig an einem Baum.
    Ich gewöhnte mich schnell ein. Unter der Woche wohnte ich im Internat, von Freitag- bis Sonntagabend war ich zu Hause. Mama gab sich alle Mühe, es mir so angenehm wie möglich zu machen. Sie kochte alles, was ich gerne aß. Samstagmittags erledigten wir zusammen die Besorgungen, abends gingen wir in ein Konzert oder ins Kino. Sie holte in diesen zwei Tagen das Bemuttern nach. «Es ist hier so leer», sagte sie dann, «aber wir sind ja so stolz auf dich. Vergiss das nicht!»
    Ich vergaß es nicht.
    Papa fühlte sich manchmal vernachlässigt und wollte dann auch etwas unternehmen. Irgendwelche Vatersachen. Da gäbe es gerade eine interessante Fotoausstellung im Museum. Oder eine Führung durch den Botanischen Garten, das wäre jetzt besonders schön wegen all der Herbstfarben!
    «
Non, merci mon père
», wimmelte ich ihn mit einem Scherz oder einer Ausrede ab. Ich hatte noch Hausaufgaben zu machen oder Kopfweh, keine Lust, schon wieder nach draußen zu gehen. Ich sprach Französisch mit ihm, das nach und nach besser wurde als seines.
    «Sei nicht so gemein zu deinem Vater!», lachte Mama dann, wonach meine Eltern vertraute Blicke austauschten und er ihre Tasse noch einmal füllte. Die glückliche Familie, am sonntäglichen Frühstückstisch vereint. Genau solch einen Moment passte ich ab, um schmeichlerisch und mit etwas zu hoher Stimme vorzuschlagen, mich noch am selben Abend zum Internat zu fahren. Wir zu dritt gemütlich im Auto … Dann brauchte Papa nicht das ganze Stück allein zurückzufahren. Die Ader auf seiner Stirn pochte, als Mama sich bereit erklärte mitzugehen. Nur ich bemerkte das.
    Die Dienstagabende waren anders, und zwar nicht nur, weil ich mir dann erlaubte, mich gegen die Schulordnung zu versündigen: Süßigkeiten oder Knabbereien, die man von zu Hause – mit Maß,
mes filles
– mitbrachte, wurden in großen Körben im Erholungsraum gesammelt. Werhier etwas lesen, plaudern oder an einem Gesellschaftsspiel teilnehmen wollte, durfte sich selbst bedienen. Nur einmal pro Tisch und nie mehr als ein Schälchen voll. Eine Schokoladenrippe oder ein paar Toffees hob ich immer in meinem Kulturbeutel auf. Am Dienstagabend, und nur dann, aß ich sie im Bett auf, nachdem ich vorher unter der Bettdecke das Knisterpapier heruntergerissen hatte. Das Papierknöllchen steckte ich in meine Jackentasche. Bloß keine Spuren im Abfalleimer hinterlassen. Während ich mir die Süßigkeit auf der Zunge zergehen ließ, dachte ich ganz intensiv und bewusst an zu Hause. An Mama, die zu ihrer wöchentlichen Chorprobe gegangen war und dort leidenschaftlich den Dirigentenstab schwang. An Papa, der jetzt allein im Haus war, sich durch das Fernsehprogramm zappte oder rastlos umherlief, vielleicht auch an einem Meisterwerk arbeitete. Da das Nest nun leer war, hatte er sich ein neues Hobby zugelegt. Er war Sonntagsmaler geworden, und zwar auch an Wochentagen. Auf Holztafeln, nicht größer als ein Blatt Papier, schuf er kindliche Szenen in grellen Farben. Puppenhafte Menschlein in Sträßchen aus Tausenden winzigkleiner Pflastersteine oder beim Picknick unter Bäumen mit Millionen identischer Blätter. Mein Vater war schon immer ein
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