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Kreuzweg

Kreuzweg

Titel: Kreuzweg
Autoren: Diane Broeckhoven
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alles. Wir wechselten während dieser endlosen Fahrt kaum ein Wort miteinander. Als ich vor unserer Haustür ausstieg, fiel der Apfel auf die Pflastersteine und kullerte unter das Auto.
    Das Wohnzimmer war voller Leute, Bekannte und Unbekannte. Schwester Bénédicte sprach anscheinend flüssig Niederländisch. Beinahe hätte ich sie ermahnt: «
On parle le Français
,
ma sœur
.
Toujours

    Es war fast Mitternacht, als ich allein mit meinem Vater zurückblieb. Wir trugen gemeinsam die Tassen und Gläser in die Küche und wussten nicht, was wir einander sagen sollten. Sehnsüchtig starrte ich auf die Tür. Ich hoffte, meine Mutter würde hereinkommen und fragen, was die ganze Unordnung hier zu bedeuten habe. Wieso ich um diese Zeit noch nicht im Bett sei, an einem ganz gewöhnlichen Wochentag?
    Papa nahm ein Zettelchen aus der fast leeren Obstschale heraus, drückte es mir in die Hand. Dabei zitterte er genauso heftig wie Oma Gleis. Kartoffeln. Lauch (Suppe). Goldrenetten. Käse.
    «Sie kam mit ihren Einkäufen vom Markt zurück», sagte er, «aber wie so oft hatte sie ihre Liste vergessen.»
    Da weinte er wie ein Schlosshund. Seine Nase triefte, das Gesicht war ganz verquollen. «Es tut mir so leid, es tut mir so schrecklich leid», schluchzte er.
    Ich legte das, was von dem Päckchen Taschentücher übrig geblieben war, das Schwester Bénédicte mir gegeben hatte, vor ihm auf den Tisch.
    Ohne etwas zu sagen, ging ich nach oben. Putzte mir die Zähne über dem Waschbecken in meinem Zimmer und schämte mich, dass ich selbst das nicht vergaß, an dem Tag, an dem meine Mutter gestorben war. Dann schob ich meinen Schreibtischstuhl vor die Tür und setzte mich darauf. Sah die Eisenbahnlinie vor mir. Ihr Fahrrad. Gemüse und Obst auf den Schienen. Mama … Kaum hörbar nannte ich die Worte, die auf ihrer Einkaufsliste standen, immer wieder, wie ein Mantra. Goldrenetten. Käse. Lauch (Suppe). Ich habe das Zettelchen in einem Seitenfach meines Portemonnaies aufgehoben, da, wo andere Frauen Fotos von ihren Kindern hineinstecken. Es war der Beweis, dass es ein Unglück gewesen war, sie nicht absichtlich auf einen herandonnernden Zug gewartet hatte. Weil sie dahintergekommen war. Dieser Gedanke war mir für eine Sekunde durch den Kopf gegangen, just bevor ich in der Schule zwischen all den Stuhlbeinen lag.
    Mitten in der Nacht wurde ich wach von den Schritten meines Vaters. Das Herz schlug mir bis zum Hals. Ich hörte ein Scharren auf dem Treppenabsatz und Schritte nach unten gehen. Der Glasschrank im Wohnzimmerquietschte kurz. Ein Klirren. Ich fand das Schnapsglas am anderen Morgen auf dem Couchtisch.
    Die Beerdigung, die vielen Leute, die Tränen, der absurde Gedanke, dass Mama in diesem Sarg aus poliertem Holz lag. Ich konnte das alles nicht fassen, und vieles davon ist aus meinem Gedächtnis gelöscht.
Deleted.
Ein Wort, das ich damals noch nicht kannte. Eine Erinnerung, fließend und schwer vor Wehmut, wird mir für immer bleiben: der Chor, Mamas Chor, der in der Kirche das
Stabat Mater
von Pergolesi sang. Wie unsichtbare Fingerspitzen, die mir die Musik in den Schädel einmassierten. Gänsehaut. Es bedeutete, dass ich noch lebte. Während ein Teil von mir genauso tot war wie meine Mutter.
    Jahre später habe ich gelernt zu meditieren. «Stelle dir eine Wolke vor», wiederholte die hypnotisierende Stimme des Lehrers, «eine Wolke, auf der deine hereinkommenden Gedanken liegen. Nähre sie nicht. Lass sie in deinen Kopf hineinschweben, heiße sie willkommen, und lass sie dann zur anderen Seite wieder hinausfliegen.» Es half. Unendliche Himmel voller Kumuluswolken, ganze Schafherden habe ich wie ein guter Hirte aus meinem Kopf getrieben. Mit der Zeit wurde es darin recht leer. Aber in meinem Herzen auch, fürchte ich. Doch beim
Stabat Mater
kommen mir noch immer die Tränen.

VIERTE STATION:
J. begegnet seiner Mutter.
    Zum Schuljahresende, gut zwei Monate nachdem meine Mutter gestorben war, nahm ich Abschied vom
Institut de la Vierge Marie pour jeunes filles
, von Schwester Bénédicte und meinen Klassenkameradinnen. Man hielt es für besser, wenn ich mein Abschlussjahr auf meiner alten Schule, sogar in meiner alten Klasse, absolvierte. Allen voran mein Vater, der die beiden übrig gebliebenen Pfeiler unserer auseinandergefallenen Familie nicht länger durch den großen Abstand und eine andere Sprache getrennt sehen wollte. Wir gehörten zueinander. Wir brauchten einander. Gerade jetzt. Ich konnte dem nichts
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