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Kreuzweg

Kreuzweg

Titel: Kreuzweg
Autoren: Diane Broeckhoven
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jetzt plötzlich zehn kleine Mohren, schwarz wie Ruß.
    Wie erleichtert war ich, als ich wieder zur Schule gehen durfte! Mit einem herzlichen
Bienvenue
hieß uns Schwester Bénédicte willkommen, als ich am Abend des Weißen Sonntags dort ankam. Sie hielt meine Hände kurz fest und küsste mich auf die Wange, ein flüchtiger Kuss, der nach Maiglöckchen roch. Da kamen mir die Tränen. Meine Mutter erklärte in ihrem besten Französisch, ich werde wohl das Familienleben vermissen, nachdem die Ferien zu Hause so schön gewesen waren …
Vous comprenez
? Ich verzog nur das Gesicht und beließ es dabei. Ich würde rein gar nichts vermissen. Erleichtert sah ich meine Eltern abfahren, blickte ihnen so lange hinterher, bis ihre aus den Autofenstern winkenden Hände wie flatternde Schmetterlinge aussahen.
    Am nachfolgenden Dienstag aß ich auf dem Bett langsam ein weißes Osterei. Auf einmal wusste ich es genau: Ich musste meiner Mutter alles erzählen! Der Entschluss überfiel mich regelrecht. Ich würgte. Schluckte laut. Es musste sein. Und zwar so schnell wie möglich. Ich konntesie nicht länger davor verschonen, auch wenn ihre Welt zerbrechen würde wie eine Eierschale. Ihr Leben würde nie wieder dasselbe sein. Ihr Leben mit mir, ihr Leben mit meinem Vater, ihr Leben mit sich selbst. Mich schauderte bei dem Gedanken, ich wäre dann verantwortlich für ihre zerbrochene Existenz. Woher sollte ich überhaupt die geeigneten Worte nehmen, um auszudrücken, was an den Dienstagabenden zu Hause geschah? Gab es solche Worte? Falls ja, kannte ich sie nicht. Aber ich würde sie suchen. Vor den großen Ferien. Die Aussicht auf ein paar gemeinsame Wochen mit ihnen in irgendeinem Sommerhaus in der Dordogne oder weiß Gott wo, ließ mich jetzt schon schaudern. Nicht auszudenken, wenn Mama eines Morgens zum Markt gehen würde, während ich noch im Bett lag, oder sie abends eine Nachbarin besuchen gehen würde. Und ich bliebe dann allein mit Papa in so einem französischen Haus mit dicken Mauern zurück. Ich musste es ihr einfach sagen. Nur wie?
    Die schrecklichsten Sommerferien meines Lebens standen mir bevor. Jedoch nicht wegen meines Bekenntnisses. Der Gedanke, dass ich an den schwarzen Monaten Juli und August in jenem Jahr keine Schuld trug, war mir – später, viel später – ein kleiner Trost. Meine Mutter hat nie gewusst, was ich ihr erzählen wollte.
    In jener Dienstagnacht übergab ich mich auf den kleinen Teppich neben meinem Bett. Eine junge Nachtschwester in beigem Morgenrock tauchte wie ein Nachtfalter aus dem Halbdunkel auf, warf einen Blick auf die Lache undmeinte, mir sei der Blumenkohl wohl schlecht bekommen. Mit routinierter Handbewegung zog sie den Vorhang meines Kämmerchens zur Seite, rollte den kleinen Teppich auf, den sie mit einer einzigen raschen Bewegung in Richtung Gang zog. Ich schämte mich zu Tode. Aber sie beruhigte mich und reichte mir ein Glas Wasser. «Das kann doch jedem mal passieren», sagte sie, als sie mich gut zudeckte. Während mich eine lähmende Müdigkeit überkam, hörte ich im Hintergrund das Rascheln einer Plastiktüte und das Klappern eines Eimers. Beruhigende Geräusche, die sich wie sanfte Musik mit meinen wirren Gedanken vermischten.
    Am nächsten Morgen beschloss ich, Mama einen Brief zu schreiben. Das wäre weniger schmerzhaft als ein Gespräch. Wo sollte das übrigens stattfinden? Zu Hause war mein Vater immer in der Nähe. Neutrales Terrain, wie ein Café oder Restaurant, würde zu viel Gemütlichkeit ausstrahlen. Ich konnte schließlich nicht bei einer Tasse heißer Schokolade mit Sahne ihr Leben ruinieren! Einen Brief würde sie lesen und wieder hervorholen können, falls der Inhalt nicht gleich zu ihr durchdrang. Ich würde ihr den Umschlag nach einem Wochenende daheim überreichen und ihr ans Herz legen, einen ruhigen Moment alleine abzuwarten, um ihn dann zu lesen. Mit der Post schicken, war ausgeschlossen. Man stelle sich vor, sie würde den Brief mit ihrem Frühstücksmesser öffnen und Papa zurufen: «Sieh mal! Ein Brief von unserer schlauen Tochter. Hoffentlich nicht wieder alles auf Französisch!»
    Es dauerte noch bis zum nächsten Dienstagabend, bis ich mich daransetzte. Den ganzen Mittag über war mir irgendwie schwindelig, und mir schwirrte der Kopf vom vielen Nachdenken. Wir aßen Brathähnchen mit Reis, dazu eine Scheibe Ananas aus der Dose, was auf der Kreidetafel als chinesisches Gericht angekündigt wurde. Wir alberten herum, zogen unsere Augen zu Schlitzen und
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