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Der Ziegenchor

Der Ziegenchor

Titel: Der Ziegenchor
Autoren: Tom Holt
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1. KAPITEL

     
    Athen ist eine große Stadt und liegt im mittleren Teil jenes Landes, das wir Griechenland nennen. Im Norden befindet sich Theben, und direkt westlich liegt Korinth, ein gutes Stück nach Süden hin Sparta. Athen ist in einer Region gelegen, die man unter dem Namen Attika kennt, einer kargen Felslandschaft, in der es einiger Überredungskünste bedarf, um etwas zum Wachsen zu bringen. Das ist vorläufig alles, was ich dem Leser über die Stadt Athen erzählen muß.
    Na ja, fast alles. Schließlich fand der erste wirklich unvergeßliche Hahnenkampf, den ich jemals gesehen habe, in Athen statt, und zwar direkt vor den Propyläen, wo der von rechts kommende schmale Pfad in die Haupttreppe mündet. Es war ein unerträglich heißer Tag, einer jener Tage, an denen einem die Frühgerste wegen des ausbleibenden Regens verdorrt und die Trauben noch am Stiel zu Rosinen werden. Damals muß ich etwa neun Jahre alt gewesen sein. Ich habe zwar keine Ahnung, was wir zu dieser Jahreszeit in Athen getan haben, erinnere mich aber noch, daß mein Vater in die Stadt mußte, um irgend etwas Geschäftliches zu erledigen, und mich bei dieser Gelegenheit mitgenommen hatte. Für mich hätte dieser Besuch eigentlich das reinste Vergnügen sein müssen – was normalerweise auch der Fall gewesen wäre –, aber aufgrund der Hitze und der Menschenmassen war ich so nörgelig geworden, wie es anscheinend nur Kinder in diesem Alter sein können. Selbst wenn sich Zeus höchstpersönlich diesen Augenblick ausgesucht hätte, um in einem feurigen Vierspänner zur Erde hinabzufahren, bezweifle ich stark, ob ich davon Notiz genommen hätte. Aber dieser Hahnenkampf war natürlich etwas ganz anderes.
    Selbstverständlich wurden auch in unserem Dorf Hahnenkämpfe abgehalten. Allerdings fand ich nie besonders viel Gefallen daran, obwohl ich vermutlich genauso blutdürstig war wie die meisten normalen Jungen in diesem Alter. Aber dieser Hahnenkampf hatte das, was allen anderen fehlte: nämlich die entsprechende Atmosphäre.
    Soweit ich es mitbekam, trat der Herausforderer, ein riesiger farbenprächtiger Vogel, der den protzigen Namen von Euryalos dem Feindzerschmetterer trug, gegen den südattischen Meister an, ein ziemlich zerrupftes Geschöpf namens Aias Blutkralle. Bei diesem Kampf winkten fast einhundert Drachmen als Siegprämie. Obwohl ich nur wenig von solchen Dingen verstand, merkte ich bald, daß man vom Feindzerschmetterer erwartete, mit Blutkralle äußerst kurzen Prozeß zu machen, zumal sich Aias’ zweckdienliches Leben als Kampfhahn allmählich dem Ende zuneigte und er nach allgemeiner Einschätzung besser unterrichteter Zuschauer nur wenig kampfstärker als ein Fleischspieß mit Selbstantrieb war. Wäre ich nach meiner Meinung gefragt worden, hätte ich mich ganz bestimmt dem mehrheitlichen Standpunkt angeschlossen, schon weil Blutkralle von der Körpergröße her bei weitem nicht an den Feindzerschmetterer heranreichte und sein linker Flügel erst kürzlich drastisch in Mitleidenschaft gezogen worden war. Der Zeremonienmeister, ein kleiner Mann mit Stiernacken, kündigte die beiden Kämpfer mit feierlicher Stimme laut an – ähnlich mußte es nach allgemeiner Vorstellung einst Homer getan haben – und zählte ihre verschiedenen Stammbäume, Wettkämpfe und Siege auf. Am deutlichsten fiel bei dieser Aufzählung ehemaliger Heldentaten auf, daß Blutkralles eindrucksvollste Leistungen bereits weit über zwei Jahre zurücklagen, wohingegen der Feindzerschmetterer zur Zeit in absoluter Höchstform war; erst vor zwei Wochen hatte er einem Hahn namens Orestes der Beutetreiber regelrecht den Bauch aufgeschlitzt und sich seither von einer Diät aus Hartweizen und Regenwürmern ernährt. Schließlich verkündete der Stiernacken, jetzt sei die letzte Gelegenheit für Wetteinsätze gekommen, und zog sich an den Rand des Kreidekreises zurück.
    Damals bestand mein wertvollster Besitz aus einem einzigen Obolos; die erste geprägte Münze, die mir je gehört hatte, und dabei war sie nicht einmal besonders hübsch. Einige Zeit bevor das Geldstück in meinen Besitz gelangte, schien einer der Vorbesitzer äußerst skeptisch gegenüber der Beschaffenheit der Metallmünze gewesen zu sein, denn er hatte einen Meißel genommen und nicht weniger als vier tiefe Kerben in das Geldstück geschlagen: drei davon quer über die Eule auf der Zahlseite und eine – in fast götterlästerlicher Art – direkt neben Athenas Nasenrücken auf der
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