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Kreuzweg

Kreuzweg

Titel: Kreuzweg
Autoren: Diane Broeckhoven
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Mit schlammbespritzten Waden und durchgefroren vom wechselhaften Aprilwetter – mal fiel Regen, mal Schnee – erreichten wir das Besucherzentrum, wo Monsieur Henri, der Leiter, weitere Geheimnisse der Natur für uns lüftete. Er hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit der ausgestopften Eule aus seinem Schaukasten.
    Es gab viel Unmut darüber, dass es am Mittwochnachmittag Unterricht gab, egal wie gut man das zu kaschieren versuchte oder wie abwechslungsreich er war. Ich jedoch fühlte mich seltsam leicht. Nach dem Abendessen würde ich endlich mit Schwester Bénédicte reden. Wir hatten uns für sieben Uhr im kleinen
parloir
bei der Marienstatue in der Halle verabredet. Was genau ich ihr erzählen würde, wusste ich noch nicht, vor allem nicht, wie. Doch ich hatte fast grenzenloses Vertrauen in diese alterslose Schwester in ihrer blauen Tracht, mit dem kurzen Haar, das sie sich wahrscheinlich selbst schnitt. Abgesehen von dem zarten Blümchenduft, der ihr stets wie ein Schatten folgte,hatte sie nichts Feminines oder Weltliches an sich. Dennoch ging etwas Mütterliches von ihr aus.
    Von einem Regenschauer überrascht, spurteten wir gegen fünf aus dem kleinen Schulbus Richtung Schultor. Drinnen verstummten die ausgelassenen Mädchenstimmen plötzlich alle auf einen Schlag, obwohl uns niemand dazu aufforderte. Schwester Oberin und Schwester Bénédicte standen beide schweigend neben der weißen Marienstatue aus Marmor. Schwester Oberin gebot uns, in den Aufenthaltsraum zu gehen, um dort auf sie zu warten. Das galt für alle. Außer für mich. Wie angewurzelt blieb ich stehen, während die Mädchenreihe in den Gang zur rechten Seite verschwand. Schwester Bénédicte trat auf mich zu. Sie hatte einen leidvollen Ausdruck im Gesicht. Hatte ich mich geirrt? Hatten wir unsere Verabredung um fünf Uhr statt um sieben? Oder hatte sie etwa gepetzt, dass ich im Bett genascht hatte? Es war, als wäre die Zeit in diesem Raum stehen geblieben. Das konnte doch nicht an den zwei verbotenen Ostereiern liegen?
    «Sag es», flüsterte ich. «Nun sag es schon!»
    «Komm», meinte sie, «lass uns kurz hineingehen.»
    Mit der Hand zwischen meinen Schulterblättern geleitete sie mich in das kleine Sprechzimmer. Die Direktorin hielt mir die Tür auf und schob einen Stuhl heran. Verkehrte Welt. Mir brach der kalte Schweiß aus.
    «
Ta maman
, deine Mutter …» Es täte ihr so furchtbar leid. Es sei Gottes Wille. Sie würden mir beistehen, wären immer für mich da. Das dürfe ich nicht vergessen. SchwesterBénédicte würde sich meiner annehmen. Jetzt und so lange, wie es nötig wäre. Sie würde mich noch heute Abend nach Hause bringen, da mein Vater außerstande sei, mich abzuholen. Das würde ich sicher verstehen.
    Satzfetzen waren es, die zwar irgendwie meinen Verstand erreichten, aber nicht wirklich zu mir durchdrangen. Auf einmal lag ich auf dem Boden, schwerelos, den Kopf voll dünner Bergluft. Das spröde Gewebe des Teppichs stach in meinen Rücken, tat mir an Armen und Beinen weh. Um mich herum schossen überall Stuhlbeine aus dem Boden, wie ein Wald aus polierten Baumstämmen. Als ich wieder aufrecht saß, hörte ich, wie ich mit den Zähnen gegen den Rand eines Wasserglases stieß.
    Meine Mutter. Mama. Auf dem unbewachten Bahnübergang von einem Güterzug erfasst. Sofort tot. Sie habe nicht gelitten, sagten die Schwestern, erst jede einzeln, dann noch einmal fast gleichzeitig. Ein Kanon des Trostes. Sie habe nicht gelitten.
    Ich erinnere mich noch gut an die Reaktionen meiner Klassenkameradinnen, vor allem an die von Marique. Sie schmierte mir im Refektorium, an unserem festen Tisch für acht Personen, ein Butterbrot und zwang mich, es zu essen. Als sei ich ihre kleine Schwester. Komm, nun mach schon. Ich hätte noch eine lange Reise vor mir und mit leerem Magen … Das Stück Brot lag einfach auf meiner Zunge. Ich hatte vergessen, wie man kauen oder schlucken musste. Später, ich saß schon im Auto, legte sie mir einen glänzenden Apfel in den Schoß. Für unterwegs.Dabei weinte sie. «Ich will nie wieder wütend auf meine Mutter sein», sagte sie, «das habe ich mir heute vorgenommen.»
    Schwester Bénédicte hielt den Blick starr auf den Weg gerichtet und brachte das Radio zum Schweigen, als die Nachrichten anfingen. «Sieben Uhr», sagte sie, «jetzt ist unsere Verabredung. Magst du mir noch erzählen, was du auf dem Herzen hattest?»
    Ich schüttelte energisch den Kopf. Ich hätte es vergessen. Das verstand sie. Sie verstand
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