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Kreuzweg

Kreuzweg

Titel: Kreuzweg
Autoren: Diane Broeckhoven
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geduldiger Mann mit Durchsetzungsvermögen gewesen.
    Ich glaube, ich war in meinem Leben nie glücklicher, als an jenen Dienstagabenden in meinem Zimmerchen, die nur mir allein gehörten. Von der Außenwelt nur durch einen dünnen Vorhang abgetrennt und trotzdem vollkommen sicher. In die Kissen geschmiegt, saß ich somit angewinkelten Knien in meinem Flanellnachthemd, den Atem süß von Schokolade. Dann träumte ich von einer Zukunft an fernen, fremden Orten, wo alle Französisch sprachen. Alles, was ich vergessen wollte, hätte die Zeit längst ausgelöscht. Ein oder zwei Mal pro Jahr würde ich mit meinen französisch sprechenden Kindern und ihrem fürsorglichen Vater bei
grand-mère
und
grand-père
in meiner alten Heimat übernachten, abends würden wir in Erinnerungen schwelgen, während die Kleinen im Gästezimmer schliefen. Manche niederländischen Worte oder Ausdrücke hätte ich inzwischen völlig vergessen, aber mein Vater würde sie lachend gemeinsam mit mir wieder ausgraben, während Mama sich erkundigte, wer noch ein Stückchen von dem selbst gebackenen Kuchen essen wolle. Oder vielleicht lieber etwas Herzhaftes?

ZWEITE STATION:
J. nimmt das Kreuz auf seine Schultern.
    Während der ersten Ferien in diesem Schuljahr, den Weihnachtsferien, gab es ständig etwas zu erledigen: Feierlichkeiten, Verwandtschaftsbesuche und die Sorge um Oma Gleis, die zu erblinden drohte. Kaum einmal ein ruhiger Moment, und das fand ich prima. Dagegen waren die Osterferien leer und langweilig. Nachdem ich von einem eigenen Leben gekostet hatte, konnte ich es nur schwer ertragen, ganze Tage mit meinen Eltern unter einem Dach zu verbringen. Sie hingegen versuchten, mir eine Stelle im Schulwesen schmackhaft zu machen, die vielen freien Tage. Gemeinsam unterwegs, gemeinsam zu Haus, wie man so schön sagt. Wie ich diese Momente am Frühstückstisch hasste, wenn sie in ihren Bademänteln dasaßen, noch nach Schlaf riechend, und den Tagesablauf besprachen. Ihren und gleichzeitig auch meinen,
en passant
. Ob ich nicht mal zu Oma gehen wolle? Sie vermisse mich so und könne sicher etwas Hilfe brauchen. Vielleicht hätte ich ja Lust auf dieses oder jenes? Ihre beklemmende Aufmerksamkeit, ihre guten Absichten nahmen mir die Luft zum Atmen. Ich sehnte mich nach dem
petit-déjeuner
im Speisesaal der Schule, wo der Tag mit trägem Geplauder in Gang kam. Voll Heimweh dachte ich an die Geräusche von klapperndem Geschirr, die verhaltenen Gespräche, die Butterbrote mit Apfelkompott oder
Sirop de Liège
, anden Blümchenkaffee aus den großen Metallkannen. Zwei pro Tisch: eine mit Milch, eine ohne.
    Mama zog sich oft mit ihrer Arbeit für die Schule oder den Vorbereitungen zur Chorstunde ins Arbeitszimmer zurück.
    Papa hatte offenbar zu viel Freizeit, ihm fehlte die Inspiration für seine Keksdosenmalerei. Er streifte gedankenverloren durchs Haus. Ich wich ihm so weit wie möglich aus, wenn sich unsere Wege aber doch zufällig kreuzten, glotzte er mich wie ein geprügelter Hund an. Von mir geprügelt, natürlich. Jede Gelegenheit war mir recht, um mich aus dem Staub zu machen. Ich rief bei Freundinnen aus meiner früheren Schule an oder ging sie besuchen, musste aber feststellen, dass sie nicht auf mich warteten. Sie fuhren entweder gerade in den Urlaub oder kamen erst daraus zurück. Schwärmten in den höchsten Tönen von einem Freund, den ich nicht kannte. Ach, schade, heute Nachmittag passe es leider nicht, zusammen in die Stadt zu gehen. Manchmal ging ich dann alleine, schlenderte durch die Einkaufsstraßen, kaufte mir eine Zeitschrift oder eine Haarspange – wie zum Beweis. Abends bei Tisch erzählte ich dann von meinem tollen Nachmittag. Mit Sylvia oder Katelijne. Kleider anprobiert, schrecklich viel gelacht, in der neuen italienischen Eisdiele ein Eis gegessen … Die vorwurfsvollen Blicke meines Vaters ignorierte ich.
    «Unsere Tochter wird groß», lachte er auf einmal, wobei er meine Stimme nachmachte. Ich musste an mich halten, dass ich ihm nicht die Gabel an den Kopf schmiss. Am gleichenAbend nahm ich, während er auf einer Versammlung war, Rache, indem ich auf einer seiner Sonntagsmalereien etwa zehn Puppengesichter mit einem schwarzen Filzstift ausmalte. Fein säuberlich innerhalb der Linien. Zum Beweis, dass ich ab und zu auch noch ein Kind sein konnte. Es war ein Weihnachtsmotiv, mit Karussell und prähistorischen Schiffsschaukeln. Wie zu seiner Zeit wahrscheinlich. Zwischen all den feiernden braven Bürgern befanden sich
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