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Kreuzweg

Kreuzweg

Titel: Kreuzweg
Autoren: Diane Broeckhoven
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PROLOG
    Nach fünfunddreißig Jahren kennt Theo Jespers jede noch so kleine Unebenheit, jede Mulde auf dem Bahnsteig, und doch geht er heute Morgen wie auf Eiern. Er beißt die Zähne zusammen und hält den Blick auf die Kuchenschachtel in seiner rechten Hand gerichtet. Heute ist Karfreitag und sein allerletzter Arbeitstag. In der Konditorei Van de Walle («Ihr täglich Brot und Gebäck, auch Hauslieferungen») hat er eine kleine Torte gekauft, ein verworrenes Nest aus Buttercreme, in dessen Mitte zwei Osterküken sowie ein paar gesprenkelte Zuckereier stecken.
    Auf dem mittleren der drei Stahlstühle, die vor der Mauer des Bahnhofsgebäudes stehen, sitzt eine Frau. Sie hat etwas von einer Künstlerin, trägt das Haar ein wenig zu blond für ihr blasses Gesicht und eine lange rostbraune Jacke. Weder alt noch jung. Theo hat sie hier öfter schon gesehen. Soweit er sich erinnert, ist sie aber nie in einen Zug eingestiegen. Der von 8:12 Uhr ist vor elf Minuten abgefahren. Der nächste, auf Gleis 2 in der gegenüberliegenden Richtung, wird noch siebzehn Minuten auf sich warten lassen.
    «Zug verpasst?», erkundigt er sich im Vorbeigehen.
    «Nein», lautet die Antwort. Mehr nicht.
    «Haben Sie vielleicht Lust, mit mir ein Stückchen Torte im Stellwerk zu essen? Ich habe etwas zu feiern», sagt er spontan. Normalerweise ist der Zugang zum Stellwerk fürUnbefugte streng verboten, aber die Frau macht nicht den Eindruck, als würde sie dort Sabotage betreiben wollen.
    Der neue Bahnhofsvorsteher, noch grün hinter den Ohren, aber voll guter Absichten, blickt erstaunt vom Bildschirm seines Computers auf.
    «Deine Frau?», fragt er.
    Theo schüttelt den Kopf, lacht.
    «Lass uns diese unbekannte Dame als eine Abgesandte aller Reisenden betrachten, die ich im Laufe meiner Karriere habe vorüberziehen sehen», sagt er feierlich.
    Sie trinken im Stehen einen Becher Kaffee und essen mit einem kleinen Plastiklöffel je ein Viertel der Ostertorte auf. Kuchengabeln gibt es in diesem leicht heruntergekommenen Bahnhof nicht.
    Theo erkundigt sich, ob sie etwa den nächsten Zug bekommen müsse. Falls ja, blieben ihr noch gut drei Minuten Zeit, um sich durch den muffigen, nach Hundekot riechenden Fußgängertunnel auf die andere Seite zu begeben.
    «Ich gehe nirgendwohin», sagt sie. «Mich treibt die Nostalgie hierher. Als Mädchen schlief ich oft bei meiner Oma in dem weißen Haus weiter oben an den Gleisen. Wenn ich an meine Jugend zurückdenke, rattern Züge durch meinen Kopf.»
    Während der zweiten Kaffeerunde gibt Theo ein paar Erinnerungen an Personen oder Begebenheiten aus seiner Laufbahn zum Besten. Was hat er hier nicht alles erlebt! Er könnte glatt ein Buch darüber schreiben. Vorausgesetzt, er hätte Talent zum Schreiben …
    Sie nickt, schüttelt ihm die Hand und wünscht ihm alles Gute für sein weiteres Leben.
    Um halb drei verlässt Theo zum letzten Mal das Bahnhofsgebäude, das ihm im Lauf der Jahre vertrauter geworden ist als sein eigenes Haus. Beim Drei-Uhr-Glockenschlag, dem Moment, als in seiner Jugend mit lautem Hallo die Osterferien anfingen, steht Theo am unbewachten Bahnübergang. Der Frühjahrswind streicht durch sein schütteres Haar. Er starrt in die Ferne, richtet den Blick auf den Punkt, wo die Gleise sich zu berühren scheinen, und denkt: Es ist vollbracht.

ERSTE STATION:
J. wird zum Tode verurteilt.
    Im Internat wurde ausschließlich Französisch gesprochen, und wir aßen dort eigenartiges Zeug wie Weißkohl, der kein bisschen weiß war, sondern eher glasig grün wie die Badezimmerkacheln bei uns zu Hause. Halb durchsichtiges Apfelkompott aus großen Einmachgläsern, das wir anstelle von Konfitüre auf unsere Frühstücksbrote schmieren mussten. Mir fehlten in diesem glasigen Brei die Apfelstückchen. Mir fehlten der Zimt und seine goldgelbe Farbe. Mir fehlte eigentlich alles. Vor allem meine Mutter. Aber ich beklagte mich nicht, schließlich war es meine eigene Entscheidung gewesen, die mich hierhergeführt hatte.
    Wenn ich Anflüge von Heimweh bekam, spürte ich es meist erst in der Kehle. Anschließend breitete sich das Gefühl gleichzeitig nach oben und unten aus. Meine Augen fingen an zu brennen, ich bekam Magenschmerzen. Ich weinte zwar nie
en plein public
– wie man das nannte –, aber abends, in meinem Zimmer, konnte ich manchmal nicht länger an mich halten. Da war ich nicht die Einzige. Durch die dünnen Holzwände meiner Chambrette und die Baumwollvorhänge hindurch hörte ich des Öfteren
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