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Kreuzweg

Kreuzweg

Titel: Kreuzweg
Autoren: Diane Broeckhoven
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sie sich gerade befand. Aber es stimmte immer. Neben der Wohnzimmertür hing der eingerahmte Druck, den sie noch von ihrer eigenen Großmutter geerbt hatte: «Gott sieht dich. In diesem Hause flucht man nicht.» Diese Worte standen unter dem von einem Dreieck umrahmten Gottesauge. Diese Warnung hatte früher Opa gegolten, der fluchte nämlich wie ein Kutscher.
    Das Bild besitze ich immer noch. Gottes alles sehende Auge ist für mich unumstößlich mit Oma Gleis’ verlöschenden Augen verbunden. Aber ob es tatsächlich alles sah? Da habe ich meine Zweifel.
    Ich suchte sie oft auf. Überall in dem weißen Haus fand ich Spuren meiner Mutter. Sie war dort aufgewachsen, hatte hier die Luft ein- und ausgeatmet, Fuß- und Fingerabdrücke hinterlassen. Ihr Schatten zeichnete sich an den Wänden ab. Manchmal schlich sie sich näher heran, kroch in mich hinein, bis wir eins wurden.
    Oma Gleis konnte mühelos einen vorbeifahrenden Güterzug von einem Personenzug unterscheiden. Dabei murmelte sie die Anzahl der einzelnen Waggons vor sich hin, während die Kristallgläser im Büffetschrank auf ihren Füßchen tanzten. Oft tranken wir ein Tässchen Augentrost-Tee zusammen, den ich für sie aus einem Lebensmittelgeschäft in der Stadt mitbrachte. Mit steifen Fingern fischte sie anschließend die beiden Beutelchen aus der Teekanne, presste das Wasser heraus, um sie sich auf die geschlossenen Lider zu legen. «Wenn’s vielleicht auch nicht hilft, schaden tut es jedenfalls nicht», meinte sie. «Auf jeden Fall tröstet es.» Es war kein schöner Anblick, wie Oma so völlig bewegungslos in ihrem Sessel saß, den Kopf im Nacken, während die ockerfarbenen Teetränen an ihrem Hals hinunterrannen. Ich tupfte sie mit einer Serviette ab, während Gott uns aus seinem Bilderrahmen heraus gütig ansah.
    Als mein eigener Schrank zu Hause zu voll wurde, schleppte ich jede Menge Sachen meiner Mutter in Omas Haus, wo ich ihnen einen Platz im Gästezimmer gab. So entstand mein Muttermuseum. Über das Bett breitete ich eine Patchworkdecke, die Mama in jungen Jahren selbstgehäkelt hatte, stellte Fotos auf, auf denen sie mit halb zugekniffenen Augen in die Kamera schaute. Ich rettete eine Schachtel voll kitschiger Reisesouvenirs vor dem Trödelmarkt und stellte sie auf einen Schrank, über den ich vorher einen indischen Sari drapiert hatte: mein Altar. Mit der Zeit übernachtete ich immer häufiger in dem Zimmer, das früher Mamas Kinderzimmer gewesen war. In ihrem Bett, auf der Matratze, in der noch ihr Körperabdruck zurückgeblieben war. Ich schmiegte mich dort hinein wie in einen Mutterschoß. Ich wurde zur Fetischistin.
    Eines der letzten Male, als Oma Gleis gerade Essen machen wollte – wenig später ließ sie sich Fertigmahlzeiten von «Essen auf Rädern» bringen –, riss ich, um ihr die Fieselarbeit zu ersparen, das Zellophanpapier von einer Keksschachtel. Ohne sich umzudrehen, sagte sie: «Vor dem Essen wird nicht genascht. Ich kann dich sehen, ich habe Augen auf dem Rücken.» Da begann ich zu weinen. Oma begriff meine Reaktion nicht. Es war doch bloß ein Scherz! Sie war doch gar nicht wirklich böse! Sie trat auf mich zu, nahm mich fest in ihre Arme. Ich schluchzte. «Ach Kind», sagte sie. Genau wie Mama. «Ach Kind!» Solche Déjà-vus brachten mich tagelang aus der Fassung.

FÜNFTE STATION:
Simon von Cyrene hilft J. das Kreuz tragen.
    Ich ging meinem Vater so viel wie möglich aus dem Weg, aber das gelang mir nicht immer. Wie von selbst entwickelte sich eine neue Aufgabenverteilung. Ich kochte oft, besser gesagt, ich sorgte dafür, dass etwas Warmes auf den Tisch kam. Meine Inspirationen holte ich mir aus der Internatsküche: Weißkohl mit Fertigsauce aus der Tüte oder Grillhähnchen vom Markt, dazu halb durchsichtigen Apfelbrei aus dem Glas. Suppe aus der Dose, angereichert mit kleingeschnittenen Gemüseresten. Fast wie echt.
    Am Küchentisch führten wir relativ normale Vater-Tochter-Gespräche.
    Er: «Ah, wie das schmeckt! Ich wusste ja gar nicht, dass du so gut kochen kannst.»
    Ich (
matt lächelnd
): «Ich, ehrlich gesagt, auch nicht.»
    Er: «Soll ich dir beim Abwasch helfen?»
    Ich: «Ja gern, dann aber bitte gleich nach dem Essen. Ich muss nämlich weg.»
    Er: «Wohin denn? Hast du schon alle Bücher für die Schule, oder brauchst du noch etwas?»
    Ich: «Alles okay. Kein Grund zur Sorge!»
    Kein Wort zu viel. Laut klappernd erledigte ich im Rekordtempo den Abwasch und machte mich so schnell wie möglich aus dem Staub.
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