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Kreuzweg

Kreuzweg

Titel: Kreuzweg
Autoren: Diane Broeckhoven
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entgegensetzen.
    Als ich wehmütig den Vorhang meiner Chambrette ein letztes Mal zuschob, verschwand damit auch das Bild, das ich mir von meiner Zukunft gemacht hatte, aus dem Blickfeld. Der Eiffelturm stürzte in sich zusammen. Doch die Sehnsucht nach allem, was mir im Internat vertraut geworden war, war nichts im Vergleich zu der anderen, viel größeren Sehnsucht: der nach meiner Mutter.
    Eines warmen Tages im Juli suchte ich Marique am Meer auf. Sie hatte einen Ferienjob im Hotel ihrer Eltern, weshalb sie sich nur ein Stündchen freinehmen konnte. Sie bestand darauf, ich müsse im August wiederkommen: Man suchte noch ein Zimmermädchen. Wir könntendann den ganzen Monat zusammen verbringen. Ich konnte sogar so lange bei ihr wohnen. Sie hatte ein eigenes Zimmer mit einem Stockbett. Wie gerne hätte ich aus vollem Herzen Ja gesagt, aber ich schüttelte den Kopf. Ich konnte meinen Vater doch unmöglich einen ganzen Monat lang seinem Schicksal überlassen?
    Schwester Bénédicte schrieb ich noch zwei Briefe auf Französisch. Sie antwortete, ich müsse meine Träume wahr machen. Ich dürfe Paris nicht aufgeben. Diesen Satz hatte sie sogar dick unterstrichen. Und wenn ich zunächst als Au-pair dorthin ginge, um mein Französisch zu perfektionieren. «
Paris t’attends!!!
», schrieb sie und knallte zur Anfeuerung ein paar Ausrufezeichen dahinter. Auf ihre Frage, ob ich mein Problem hätte lösen können, ging ich nicht ein. Ich lebte in dem Irrglauben, es habe sich von selbst gelöst.
    Die zwei Monate, bis ich endlich von meiner alten in die neue Schule wechseln konnte – oder auch andersherum – waren einsam und leer. Mein Vater beauftragte mich, ihm beim Aussortieren von Mamas Sachen zur Hand zu gehen. Gemeinsam mit ihrem Geruch strömten auch die Erinnerungen aus den Falten ihrer Kleider empor. Um den Verschluss einer Halskette hatte sich ein feines Pinselchen ihrer Haare gebildet. In den Geheimfächern ihrer Taschen stieß ich auf Einkaufslisten, kleine Zettel, auf die sie Musiknoten oder Buchtitel notiert hatte, eine Haarklammer, die Miniaturflasche eines süßlichen Parfüms.
    Mein Vater legte mir Altkleidersäcke hin, die er, nachdem wir sie mit Mutters Kleidung vollgestopft hatten, am Abend auf den Gehsteig stellte.
    «Das Leben geht weiter», meinte er, «und dir ist das doch alles zu groß.»
    Als es dunkel war, schleppte ich die Säcke wieder ins Haus hinein und sortierte alles noch einmal, und noch einmal. Den Schreibtischstuhl hatte ich vor meine Zimmertür geschoben. Die meisten Pullover und Jacken bewahrte ich ordentlich gestapelt in meinem Schrank auf. Nicht, dass sie mir wirklich gefielen, aber es waren vertraute Kleidungsstücke, in denen Mama gelebt hatte. Manche hatte sie sogar selbst gestrickt. Beinah konnte ich das Klappern der Nadeln hören, wenn ich mit der Hand über das weiche Material fuhr, daran roch, hineinbiss. Ich hoffte weiterhin ganz fest, sie würde eines Tages – wie ein Flaschengeist – aus den Strickmaschen heraus auftauchen und wieder Gestalt annehmen. Sie würde einfach vor mir stehen, mich ansehen und davon überzeugen, dass das alles überhaupt nicht wahr sei. Dass ich mich nicht so anstellen müsse. Natürlich war sie nicht tot. Wie ich nur auf so einen Gedanken käme?
    Ein halbes Jahr später trug ich täglich ihre Kleider. Sie verhüllten meinen Körper, doch keiner vermutete dahinter etwas anderes als meinen Wunsch, in die Haut meiner Mutter zu schlüpfen. Sie war, ohne es zu wissen, meine Mitschuldige.
    Oma Gleis wurde meine Stütze. Ich bewunderte es, wie sie sich tastend in dem weißen Haus bei den Schienen zurechtfand, mit Fingerspitzen, die ihr mehr und mehr die Augen ersetzten. Sie ließ sich nicht aus ihrem vertrauten Umfeld verjagen, wenn der Arzt auch der Ansicht war, sie solle besser jetzt, da sie noch Formen voneinander unterscheiden könne, in ein Altersheim ziehen. Wenn sie erst einmal vollkommen erblindet sein würde, was nur eine Frage von Monaten, höchstens einem Jahr sei, werde es weitaus schwieriger, sich an einem unbekannten Ort einzuleben, erklärte er. Das hielt sie für ausgemachten Blödsinn. Typisches Ärztegerede. Sie kannte ihr Haus wie ihre Westentasche, jede noch so kleine Unebenheit, die Bedeutung jedes Geräusches. Darüber würde sie später entscheiden, fertigte sie jeden ab, der ihr gute Ratschläge geben wollte. Wenn sie selbst nicht mehr sah, würde Gott sie schon im Auge behalten. Darauf folgte eine vage Handbewegung, je nachdem, wo
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