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Heimkehr zu den Dakota

Heimkehr zu den Dakota

Titel: Heimkehr zu den Dakota
Autoren: Liselotte Welskopf-Henrich
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Das Abschiedsfest
     
    Es war Morgen, und Joe Brown saß in seiner Barackenkammer. Diese Baracke war ein gutes Stück weiter westwärts aufgeschlagen als drei Jahre zuvor, und es führte schon ein Eisenbahngleis bis zu dem Baulager, zu dem die Baracke gehörte. Ein Materialzug wurde erwartet; er sollte in der bevorstehenden Nacht ankommen und am Tage darauf wieder zurückfahren.
    Brown war allein in der Kammer, saß auf seinem Feldbett und rauchte schon die dritte Zigarre. Seine Arbeit hatte er abgeschlossen und alle Pläne und Berechnungen dem Nachfolger übergeben. Er hatte an diesem letzten Tag seines Aufenthaltes an der Präriestrecke der im Bau befindlichen Union Pacific nichts mehr zu tun. Am kommenden Tage wollte er mit dem Materialzug die bereits fertige Strecke nach Osten zurückfahren. Er hatte eine Berufung in die Zentrale der Bauleitung erhalten, um an maßgebender Stelle an dem Endspurt um die Fertigstellung der Bahn mitzuwirken. Es standen bis dahin sowohl technisch als auch organisatorisch noch sehr schwierige Aufgaben bevor. Die Bahnstrecke wurde gleichzeitig von Osten und von Westen her gebaut; in den Rocky Mountains sollten sich die Strecken treffen, und da sie an zwei verschiedene Baugesellschaften im Wettbewerb vergeben worden waren, nahmen das Tempo und die Rücksichtslosigkeit, mit denen gebaut wurde, zuweilen groteske Formen an. Joe Brown traute man die nötige Energie und auch die notwendige Erfahrung zu; man hatte sich seiner erinnert.
    Joe studierte das Schreiben, mit dem er berufen wurde, noch einmal und steckte es weg. Er war nicht gewohnt, nichts zu tun zu haben; der eine einzige Tag der Untätigkeit wurde ihm bereits am Morgen zuviel. Seinen Nachfolger hatte er eingeführt, und wenn er auch gern gewußt hätte, ob dieser seine Obliegenheiten in Browns Sinne wahrnahm, so kam er sich bei dem Wunsch zu kontrollieren doch lächerlich vor. Er wußte nicht, was er mit den Stunden anfangen sollte, die für ihn nicht frei, sondern nur leer waren. Henry war nicht verfügbar. Er bereitete die Abschiedsfeier vor, die am Abend für Joe Brown stattfinden sollte. Der Leiter des Lagers, Taylor, war beschäftigt. Die Ingenieure hatten alle zu tun. Die Kundschafter waren auf der Strecke unterwegs, um den erwarteten Materialzug gegen etwaige Angriffe der Indianer zu sichern. Alle machten sich nützlich, nur Joe Brown saß in seiner Kammer und rauchte. Er kam sich vor wie ein Gefangener, der nicht arbeiten durfte. Durch die unablässige Anspannung der letzten Jahre waren seine Nerven überreizt.
    Er wäre imstande gewesen, sich schon am frühen Morgen zu betrinken, wenn ihm nur jemand Branntwein gebracht hätte. Aber Daisy, die Kellnerin, schien ihn auch schon vergessen zu haben. Er reiste morgen ab, und sie mußte sich künftig die Trinkgelder anderer zahlungskräftiger Kunden sichern.
    Joe Brown spuckte aus. Er spuckte ohne Bedenken auf den Boden, denn er brauchte ja nur noch eine Nacht in dieser Kammer zu schlafen! Falsch; er brauchte überhaupt nicht mehr in dieser Kammer zu schlafen, die kommende Nacht wurde durchgefeiert. Und dann stieg er mit Henry in den Zug, der ostwärts fuhr … zu der Stadt, und in der Stadt war ein Büro mit Vorgesetzten, die noch nie den wilden Westen gesehen hatten …, und in der Stadt wohnte die Familie, die Joe kaum mehr kannte …
    Brown spuckte noch einmal, machte dann das Fenster auf und schaute hinaus. Es war windig und staubig draußen, und er wußte, daß er in der Stadt diesen Wind und diesen Staub der Prärie vermissen würde.
    Nun hatte Daisy ihn doch erspäht und seinen Wunsch erraten. Ihr Gesicht war am Fenster der Küche erschienen, und gleich darauf kam sie mit einer Flasche Whisky zu dem Fenster von Browns Kammer. Sie war sehr jung, hatte eine fettige Haut, und ihr Haar war lange nicht gewaschen, aber ihre Augen waren lustig und ihre Nase kurz und keck.
    »Jetzt schon trinken?« fragte sie, als sie dem Ingenieur die Flasche gab und das Geldstück dafür einkassierte, nicht ohne einen Blick darauf geworfen und festgestellt zu haben, daß Joe heute freigebig war.
    »Abschiedsschmerz, Daisy.«
    »Ich heiße nicht Daisy. Für dich schon gar nicht. Vicky heiße ich.«
    »Vicky paßt nicht zu dir. Daisy …, der Whisky tötet den Abschiedsschmerz. Hol dir auch einen Becher!«
    »Das Trinken gewöhne ich mir noch nicht an, das ist was für die alten Herren. Ich kenne noch keinen Abschiedsschmerz und brauche keinen Brandy, um ihn zu töten.«
    »Als ich so jung
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