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Kreuzigers Tod

Kreuzigers Tod

Titel: Kreuzigers Tod
Autoren: Peter Oberdorfer
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schönen, sonnigen Morgen. Vor uns ging die alte Mühlbacherin. Und wir dachten beide dasselbe, jedenfalls sprachen Sie das aus, was ich dachte, nämlich dass ihre Gestalt, ihr Gang von dem Morgen und überhaupt von allem, was sie umgab,
    abstach, scharf unterschieden war. Weil man ihr großen Schmerz zugefügt hatte, den sie sichtbar allein mit sich herumtrug. Und ich habe Sie dafür bewundert, dass Sie zugaben, auch dabei gewesen zu sein, als man damals der Mühlbacherin ihr Kind weggenommen hat. Als wir die Abzweigung des Weges, die zu meinem Haus hinunterführt, erreichten, blieb ich stehen, um mich von Ihnen zu verabschieden und auch, um Ihnen gerade ins Gesicht zu schauen, aber Sie wichen meinem Blick aus und gingen wortlos weiter, an diesem Tag.«
    »Ich erinnere mich«, sagte er leise. Seine Augen glänzten, als wäre er erblindet. »Mein Gott, wie alt bin ich damals gewesen, an diesem schrecklichen Tag? - Es hieß, dass der Kreuziger ein paar Leute braucht. Ich wusste gar nicht, wofür. Ich hatte wohl von dem Gerücht über die Mühlbacherin und ihr Kind gehört, natürlich. Aber ich lebte damals wie hinter einer Glasscheibe, verstehen Sie. Meine Kindheit und Jugend bestand nur aus Staunen und unnützem Herumstehen. Bis ich zur Kunst fand, und das war recht spät, wusste ich nicht, wofür ich gut war, und solange ich für nichts gut war, tat ich auch nichts. Ich wusste nicht, was falsch und was richtig war. Ich weiß noch, wie mir mein Vater an diesem scheußlichen, regengrauen Tag gesagt hat, ich soll hinein ins Dorf zum Kreuziger, der braucht Leute. Wenn damals der Bürgermeister jemanden gebraucht hat, dann ging man. Ich war froh, dass ich wegkonnte vom Hof, wo mich mein Alter nur hierhin und dorthin kommandierte. Ich ging durch den Wald, und da geschah etwas Seltsames. Wissen Sie, dass es damals noch Wölfe gab bei uns oder dass es hieß, es gäbe noch Wölfe und Bären in unseren Wäldern? Sie seien fast ausgerottet, hieß es,aber vereinzelt sehe man sie noch. Ich habe in meinem ganzen Leben nur ein einziges Mal einen Wolf in freier Wildbahn gesehen, und das war an diesem Tag, an dem es so dunkel war. Ich war schon fast ganz durch den Wald durch, vielleicht noch fünf oder zehn Minuten von der Stelle entfernt, wo heute das Haus des jungen Kreuziger steht, und ganz nah vor mir, es waren nicht mehr als zehn Meter, trat ein Wolf auf den Weg. Er schien ihn überqueren zu wollen, ging langsam und mühsam. Er war dürr und sein Fell struppig. Als er mich sah, blieb er stehen. Müde drehte er den Kopf in meine Richtung und schaute mich an. Ich weiß nicht, wie lange wir beide da so standen. Irgendwann schien der Wolf genug zu haben von mir und verzog sich. Ich schaute ihm nach, wie er im Wald verschwand. Ich kann Ihnen nicht sagen, wie glücklich mich diese Begegnung gemacht hat. Als ich aus dem Wald herauskam, ging ich ein Stück und kam zu der Stelle, wo es hinabgeht zur Mühlbacher-Senke, ging weiter, weil ich ja ins Dorf hineinsollte zum Kreuziger. Aber schon nach ein paar hundert Metern kam mir ein ganzer Trupp von jungen Leuten entgegen, die zum Teil Waffen trugen. Das wirkte alles irgendwie unernst, wie ein Faschingsumzug, ein paar waren auch betrunken. Der Erste von ihnen, der Kreuziger, sagte mir, dass sie alle unterwegs waren zum Mühlbacher. Ich solle mitkommen. Ich leugne nicht, dass ich wusste, worum es ging, und dass ich ein schlechtes Gefühl hatte. Das hatte ich augenblicklich. Aber ich ging mit. Ich befand mich in dem Haufen. Ich ging mit und, wie soll ich Ihnen das sagen, so entsetzlich alles dann Folgende war, in der Erinnerung ist für mich das Schlimmste, dass ich mich in die-sem Haufen wie gelähmt fühlte. Ich frage mich immer und immer wieder, wenn ich mich an diesen Tag in allen Einzelheiten erinnere, wie es möglich war, dass ich zuschaute und mittat! Ich schaute zu, wie man einer Mutter ihr Kind aus den Armen riss, und ich werde es nie vergessen können. Es ist keine Erinnerung, es ist nie eine Erinnerung daraus geworden, ich habe das Gefühl, dass ich es wieder und wieder erleben muss, wenn ich die Bilder davon vor mir sehe. So etwas hört nie auf, zu geschehen. Entsetzlich.«
    Ich sagte nichts.
    »Und es geht ja noch weiter. Wir hatten das Kind, und einer musste es nehmen. Als wir aus dem Haus der Mühlbacherin heraußen waren, drückte der Kreuziger mir die Kleine in die Arme. >Nimm du es<, sagte er nur. Ein kleines Kind ist die angenehmste Last, die man sich vorstellen kann. Sein
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