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Kreuzigers Tod

Kreuzigers Tod

Titel: Kreuzigers Tod
Autoren: Peter Oberdorfer
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wäre noch etwas. Der Mannlechner hat einen sehr aufwendigen Zeichenstil. Das ganze Blatt war richtig dunkel, so voll ist es gewesen mit Bleistiftstrichen, als wir zu ihm gekommen sind. Ausgeschaut hat das, wie wenn das Gras den Kreuziger verschluckt hätte. Wenn der Mannlechner nach Ihrem Abgang vom Tatort dahergekommen ist, hätte er maximal eine Dreiviertelstunde Zeit gehabt, um vom Weg zur Leiche hinunterzugehen, seinen Stuhl aufzustellen, seine Sachen herzurichten, sich zu überlegen, wie er die Zeichnung anlegen will, und sie schließlich auszuführen. Das geht sich doch nie aus.«
    Die Mühlbacherin wurde starr. »Dazu kann ich nichts sagen. Ich versteh nichts vom Mannlechner seiner Kunst.«
    »Frau Mühlbacher, ich glaub, Sie lügen.«
    »Was ich Ihnen sagen kann, hab ich gesagt. Wenn Ihnen das nicht passt, kann ich Ihnen nicht helfen.«
    »Sie haben mir bei weitem noch nicht alles gesagt.«
    »Wie meinen Sie das?«
    »Ich meine, dass ich zwischen Ihnen und dem Mannlechner zwar keine Begrüßung wahrgenommen habe, wohl aber haben Sie dem Mannlechner, der Sie angeschaut hat, zugenickt, wie zur Bestätigung einer Abmachung. Irgendetwas gibt es da, das Sie verschweigen.«
    Sie schüttelte störrisch den Kopf. »Ja, haben Sie dasnoch nie gesehen, dass sich alte Bekannte, die sich oft über den Weg laufen, einfach nur zunicken und stumm begrüßen?«
    »Aber das war etwas anderes.«
    »Was soll es denn gewesen sein?«
    »Das frage ich Sie.«
    »Es war nichts.«
    Jetzt war die Mühlbacherin, die zuvor in Bedrängnis geraten war, plötzlich wieder obenauf und in Sicherheit. Mir war klar, dass sie log, ihr war klar, dass ich es wusste, aber jetzt schien ebenfalls klar, dass es mir nicht gelingen würde, sie in so offensichtliche Widersprüche zu verwickeln, dass sie die Nerven verlor und mit der Wahrheit herausrückte. Eine schwierige Situation. Meine Fragetechnik hatte versagt. Wenn man ihr als gleichberechtigtem Wesen gegenübertrat, hatte sie die Wahl, zu sagen, was sie sagen wollte. Wenn man sie hingegen als Gegenstand behandelte, mit dem man verfuhr, wie es einem passte, konnte man aus ihr herausquetschen, was eben ging. Das schien sich der Engel jetzt zu denken. Die Mühlbacherin atmete ein paarmal gelangweilt, als warte sie darauf, dass wir von ihr abließen, als sich Engels Gesichtsausdruck verwandelte wie ein Umspringbild: von schläfrig abwesend in wütend entschlossen. Er ging von hinten zur Mühlbacherin, umschloss mit seiner linken Hand den grauen Hinterkopf der alten Frau und schlug ihr Gesicht kräftig gegen die Tischplatte, einmal, zweimal, dreimal. Das ging ungeheuer schnell und erstaunlich anstrengungslos. Die Mühlbacherin setzte ihrer Misshandlung keinerlei Widerstand entgegen. Und nach dem dreimaligen Aufschlagen des Kopfes auf der Tischplatte hatte sich das
    Gesicht stark verändert. Eine einzelne Gabel, die auf dem Tisch lag, hatte ihre fünf Zähnchen dreimal in die Stirn der Mühlbacherin eingegraben, so tief, dass jetzt zögernd das Blut aus den drei Malen herabzurinnen begann. Die Nase war dunkelrot und mochte gebrochen sein. Aus den Nasenlöchern liefen zwei breite Blutstreifen schnurgerade in den Mund, der formlos offen stand. Etwas schien damit nicht in Ordnung zu sein. Es war nicht ganz klar, was, bis die Mühlbacherin den Mund, aus dem dann ein richtiger Schwall von Blut auf den Tisch herausschwappte, noch weiter aufsperrte und mit den Fingern ihrer zitternden Hand hineinfuhr, um etwas darin zu suchen. Man hörte ein gedämpftes Klappern und Klicken, dann fielen die Reste eines zerbrochenen künstlichen Gebisses heraus. Die Mühlbacherin starrte ihre Zähne an, atmete schwer, und noch immer hing der Unterkiefer herab.
    »Redest du jetzt?«, fragte der Engel.
    Der alte Mühlbacher, der mittlerweile in die Nähe der Wohnzimmertür vorgedrungen war, würdigte die Misshandlung seiner Tochter nur eines kurzen Blickes, dann schrie er: »Red!«
    Was zunächst aus dem Mund der Mühlbacherin herauskam, war ein Grollen und Gurgeln. Das klang, als hätte sie zeitlebens nie sprechen gelernt. Dann erhob sie sich, ging zum Spülbecken und spülte sich den Mund aus. Als sie wieder am Tisch saß, schaute sie abwesend vor sich hin. Der Mund war jetzt geschlossen, aber weil die Zähne fehlten, wirkte die untere Gesichtshälfte wie eingedrückt. Der Engel ging zur Anrichte und kramte in einer der Schubladen herum, und ich bekam Angst, dass er nun zu Methoden greifen könnte, die nicht mehrzu verantworten
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