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kommt wie gerufen

kommt wie gerufen

Titel: kommt wie gerufen
Autoren: Dorothy Gilman
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    1
    Die Schwester verließ das Ordinationszimmer und zog die Tür hinter sich zu. Mrs. Pollifax und der Arzt sahen einander an. Er war ein richtig netter junger Mann mit schwarzem Haar, auffallend weißen Zähnen und Hornbrille, die er jetzt abnahm, um auf dem Bügel herumzukauen. »Mrs. Pollifax«, sagte er freundlich, »ich weiß ja nicht, wie Sie das anstellen, aber für eine Frau Ihres Alters sind Sie in ausgezeichneter körperlicher Verfassung. Ich kann Ihnen nur gratulieren.«
    »Oh«, sagte Mrs. Pollifax verzagt. Der Arzt musterte sie derart eigentümlich, daß sie, um ihn nicht zu kränken, mit pflichtschuldiger Freude nochmals »oh« sagte.
    Er lächelte und schob sich die Brille wieder auf die Nase. »Allerdings stelle ich trotz Ihres einmaligen physischen Zustands gewisse Anzeichen einer Depression bei Ihnen fest. Sie sind nicht mehr ganz die gleiche Mrs. Pollifax, die mich vor einem Jahr aufgesucht hat. Bedrückt Sie etwas?«
    Sie zögerte und überlegte, ob er sie wohl verstehen würde. Er sah so lächerlich jung aus.
    Mit Nachdruck fuhr er fort: »Ich habe das Gefühl, Sie sind darüber enttäuscht, daß Ihnen nichts fehlt.«
    Zurückhaltend erwiderte sie: »Wissen Sie, ich habe mir nie gewünscht, meine Zeitgenossen zu überleben. Für mich ist das Leben keine Konkurrenz, bei der es darauf ankommt, wer am längsten durchhält. Ich glaube, manchmal kann man auch zuviel Zeit haben.« Sie brach ab und setzte dann tollkühn fort: »Sicher klingt so etwas schrecklich leichtfertig, aber ich finde einfach, ich habe mich selbst überlebt.« So, dachte sie aufatmend, jetzt ist es heraus.
    »So, so. Und Ihre Kinder, Mrs. Pollifax, sind sie…?«
    »Erwachsen und weit fort von hier. Und Besuche sind nicht das gleiche, verstehen Sie? Da bleibt man doch immer nur ein Außenseiter.«
    Er hörte ihr aufmerksam zu. Ja, er war wirklich ein sehr netter junger Doktor. »Sagten Sie nicht, daß Sie bei einer ganzen Reihe von Wohltätigkeitsvereinen mitarbeiten?«
    Mit großer Genauigkeit schnurrte sie die Liste jener edlen Zwecke ab, denen sie ihre Zeit widmete. Es war eine eindrucksvolle und vernünftige Liste.
    Der Arzt nickte. »Schön, aber macht Ihnen diese caritative Tätigkeit auch Spaß?«
    Seine Frage traf Mrs. Pollifax so unvorbereitet, daß sie unsicher blinzelte. »Komisch«, erwiderte sie und lächelte ihm plötzlich zu. »Ich glaube, im Grunde genommen hasse ich sie.«
    Unwillkürlich erwiderte er ihr Lächeln. Es wirkte so ansteckend und verschwörerisch. »Dann wäre es vielleicht an der Zeit, daß Sie sich eine befriedigendere Tätigkeit suchen«, schlug er vor.
    Mrs. Pollifax runzelte leicht die Stirn und sagte gedehnt: »Der Umgang mit Menschen macht mir schon Freude, an der Wohlfahrt stört mich nur, daß dazu oft nichts weiter als ein tadelloses Gebiß nötig ist.«
    »Wie bitte?«
    »Gute Zähne – für das pausenlose Lächeln. Und dann gibt es so viele Vorschriften! Sie haben keine Ahnung, wie straff gewisse Wohlfahrtsvereine organisiert sind. Da geht es so unpersönlich zu, daß man völlig das Gefühl einer eigenen Leistung verliert.«
    »Halten Sie sich für einen schöpferischen Menschen?«
    Mrs. Pollifax lächelte. »Du liebe Zeit, das weiß ich nicht. Ich bin einfach – ich.«
    Das überhörte er und sagte im Brustton der Überzeugung: »Für jeden Menschen jeder Altersstufe ist es von entscheidender Bedeutung, daß er sämtliche in sich schlummernden Möglichkeiten ausschöpft. Tut er es nicht, dann nistet sich, wenn man so sagen darf, in seiner Seele eine Art Rost ein, und allmählich zerfällt seine Persönlichkeit.«
    »Ja, da bin ich ganz Ihrer Meinung, bloß: Was soll ich tun? Nach dem Tode meines Mannes habe ich beschlossen, mir mein Leben vernünftig einzuteilen, um meinen Kindern niemals zur Last zu fallen. Es ist nur – «
    »Zu vernünftig, vielleicht?« Etwas in ihrem Blick paßte nicht zu ihrem leicht spöttischen Ton, deshalb sagte er: »Gibt es denn nichts, was Sie schon immer gerne getan hätten, ohne bisher die dafür erforderliche Zeit oder Ungebundenheit gehabt zu haben?«
    Mrs. Pollifax sah ihn lange an. »Als junges Mädchen habe ich mir viele Jahre hindurch gewünscht. Spionin zu werden«, gestand sie.
    Der Arzt warf den Kopf zurück und schüttelte sich vor Lachen, und Mrs. Pollifax fragte sich, weshalb man sie immer genau dann komisch fand, wenn sie es völlig ernst meinte. Vielleicht waren eben ihre Neigungen schon immer etwas absonderlich gewesen. Ihr Mann hatte
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