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Kreuzigers Tod

Kreuzigers Tod

Titel: Kreuzigers Tod
Autoren: Peter Oberdorfer
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steilen Hang. Der Ausblick über die Landschaft war ungeheuer, ozeanisch. Kein Wunder, dass man zum Maler wurde, wenn man so mit der Welt zu seinen Füßen aufgewachsen war. Ich erinnerte mich, dass Mannlechner mir einmal erzählt hatte, dass es zu seiner Zeit noch üblich gewesen war, Kinder wie Haustiere an die Leine zu legen, damit sie nicht beim Spielen abstürzten und vom Haus in die Tiefe fielen. So angebunden und ohne Bewegungsfreiheit sei ihm über Jahre nichts anderes geblieben, als in die Ferne zu schauen, hatte mir Mannlechner erzählt, so habe er begonnen, »mit den Augen zu leben«. Hinter dem Haus setzte sich der Weg hangaufwärts fort und führte schon nach wenigen Metern in die Dunkelheit des Waldes hinein, wo ich eine vertraute Farbe sah. Da oben befand sich zu meiner Verwunderung das Polizeiauto und Engel winkte mir zu, lässig an den Wagen gelehnt. Offensichtlich also gab es einen Weg, der um den steilen Hang herum verlief und hinter dem Mannlechner'sehen Haus endete! Nein, jetzt erinnerte ich mich, der Weg endete dort nicht, sondern führte weiter in den Wald hinein und dann zurück zum Dorf. Es handelte sich um jenen Weg, der zu der Stelle führte, an der der Kreuziger erschlagen worden war. Man kam, nach einer Gehzeit von gut einer Stunde, dort wieder aus dem Wald heraus, wo der Kreuziger gewohnt hatte, nicht weit von der Mühlbacher-Senke. Es überraschte mich nicht, dass der steile Aufstieg, den ich unternommen hatte, umsonst gewesen war. Früher oder später im Leben stellen sich ja die meisten An-strengungen als sinnlos heraus. Und der Engel, den ich so gern unterschätzte, hatte es richtig gemacht. Er war, ohne mir freilich ein Wort zu sagen, mit dem Auto heraufgefahren. Er kam auf mich zu. »Engel, warum hast du mir denn nicht gesagt, dass man auch mit dem Auto hier heraufkommt?«
    »Tut mir leid, Meister, tut mir leid.« Und jetzt geschah etwas Seltsames. Er umarmte mich ungeschickt und klopfte mir kumpelhaft auf die Schulter. »Sie haben den Aufstieg heil überstanden, Gott sei Dank. Ich warte im Auto auf Sie. Viel Glück.«
    Ich war zu müde, um mich zu ärgern, und betätigte die Türglocke. Mir fiel ein, dass es eine Unhöflichkeit darstellte, jemanden in der Mittagsruhe zu stören. Je fleißiger die Menschen waren, desto heiliger war ihnen die wenige Ruhezeit, die sie sich gönnten. Nach einer Weile öffnete sich die Tür und Mannlechner, der meines Wissens allein wohnte, erschien. Tatsächlich hatte ich ihn beim Essen gestört, denn er hatte einen Bissen im Mund, den er kaute und schluckte, während ich mich für die Störung entschuldigte. Er verneinte, es liege keine Störung vor.
    »Als ich das letzte Stück Kartoffel auf die Gabel gelegt hab, genau in diesem Moment hat's geklingelt. Kommen Sie herein, Herr Wachmann.«
    Ich trat ein. Es gab keinen Vorraum, man gelangte sofort in einen düsteren Hausflur. Rechter Hand ging eine uralte und schon schwarz verwitterte Holztreppe ab, die in den zweiten Stock hinaufführte. Im Flur roch es nach altem Holz, nach gut gepflegtem Schuhleder, schweren Mänteln und Filzstiefeln, die in der warmen Jahreszeit, weil sie so kurz war, gar nicht erst verräumtwurden. Als ich im Dunkeln Mannlechner vor mir hergehen sah, schien er, der wohl Anfang sechzig war, jung. In seinem Haus hatte er einen federnden, gelassenen Gang. Dann folgte eine Überraschung. Er öffnete eine der niedrigen Holztüren. Sie war als Einzige nicht bemalt und hatte einen einfachen gusseisernen Knauf. Solche Türen verbanden in den Bauernhöfen gemeinhin den Stall oder den Selchraum mit dem Wohntrakt, aber hier führte sie in eine riesige Halle, einen lichtdurchfluteten Raum, der größer schien als das gesamte Haus. Ein prächtiger, dunkel glänzender Holzboden, wie man ihn vielleicht in den Rittersälen alter Schlösser finden konnte, verlief in einem kunstvollen quadratischen Muster, das den Blick ständig aufs Neue labyrinthisch in die Irre führte. Offenbar war der gewaltige Atelierraum, in dem wir uns befanden, dadurch entstanden, dass Mannlechner aus der sonnenseitigen Flanke des Hauses alle Zwischenwände, sowohl die horizontalen als auch die vertikalen, herausgenommen hatte, um eine zwei Stockwerke umfassende und bis unter den Dachstuhl reichende Halle zu schaffen, die so hoch war, dass man sich darin beinah verloren fühlte. Was den Raum trotz seiner Größe mit Leben erfüllte, waren die herumstehenden Leinwände, die mit orangefarbenen Tüchern zugedeckt waren.
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