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Kostbar wie ein Tag mit dir - Roman

Titel: Kostbar wie ein Tag mit dir - Roman
Autoren: Susan Fraser
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dann aufgeregt weiterwandern, sanft, bis unter sein Kinn und legte sie auf diese weiche Stelle oben am Hals - sein Kinn war straffer geworden. Und währenddessen starrte er mich einfach nur an, mit offenem Mund, sprachlos.
    »Marc, was ist passiert? Rede mit mir!«
    »Annie!«
    Aber seine Stimme war bloß ein Krächzen. Er griff nach meinen Ellbogen und lehnte sich mit dem ganzen Gewicht gegen mich, als suche er Halt. Ich betrachtete ihn von oben bis unten, musterte sein Gesicht, seinen Körper. Nicht nur sein Gesicht sah anders aus. Er war insgesamt größer geworden, breiter in den Schultern, irgendwie drahtiger. Er hatte sich verändert, auch wenn ich lachen muss, wenn ich das sage, denn genau genommen war ich nicht erstaunt, weil er sich verändert hatte, sondern weil er sich nicht im Geringsten verändert hatte.
    Vor mir stand der Marc unserer ersten Begegnung - vor fünfzehn Jahren.
 
    Wir haben uns in Paris kennengelernt - ausgerechnet in einem irischen Pub. Ich sah ihn zuerst, über viele Köpfe hinweg, er stand an der Bar. Er hatte einen Freund bei sich und trank ein Guinness, ein dunkelhaariger Mann mit Augen, die so klar waren wie der Aprilhimmel - Ostern in Australien, dieses klare Blau, das die Haut zum Prickeln bringt. Er war offensichtlich Franzose, da er sich bei seinem Bier Zeit ließ und die Lippen zusammenpresste, als sei er das bittere schwarze Starkbier nicht gewohnt. Ich weiß noch, dass ich dachte: Nett!, als ich zu ihm hinüberblickte. Ich schaute ihn mir genau an - seine kräftige, stämmige Statur, seine Bewegungen, die Art, wie er sein Bierglas in der Hand hielt, die Unbekümmertheit und das Selbstbewusstsein, die aus seinen Gesten sprachen -, nur seine Klamotten waren unmöglich. Er dagegen bemerkte mich erst, glaube ich, nachdem er sein drittes Glas schon halb oder fast ganz ausgetrunken hatte.
    »Pas vrai«, meint Marc. »Stimmt überhaupt nicht. Du bist mir schon in dem Moment aufgefallen, als du reingekommen bist.«
    Dabei war ich vor ihm da gewesen.
    Er trug eine alte Jeansjacke, offenbar sein Lieblingsstück. Sogar von weitem erkannte ich, dass der zerschlissene, ausgeblichene blaue Baumwollstoff seine besten Tage hinter sich hatte - nein, mit seinen Klamotten konnte dieser Mann wirklich niemandem imponieren. Doch gerechterweise muss ich sagen, dass er mir später erzählte, er hätte an dem Abend gar nicht vorgehabt, jemanden abzuschleppen, er hätte eigentlich überhaupt nicht ausgehen wollen, aber sein Freund Yves hätte ihn dazu überredet.
    »Da kann man wunderbar irische Mädchen mit roten Haaren und drolligem Akzent anbaggern«, hatte Yves gesagt. Insofern hatte Marc wohl eher Pech. Jedenfalls habe ich das gedacht, bis ... Aber dazu komme ich später.
    Ich war mit Beattie dort, die tatsächlich rothaarig war und aus Irland stammte. Beattie und ich waren schon lange befreundet. Wir hatten uns in meiner allerersten Zeit in Paris kennengelernt. Ich war mitten in einem Schneesturm gelandet, nachdem ich alle Ermahnungen in den Wind geschlagen und Australien - und meine Mutter - verlassen hatte. Ich suchte das Abenteuer. Als ich noch ein Mädchen war, hatte Mummy mich immer vor solch albernen Herausforderungen gewarnt, aber für eine junge Frau von dreiundzwanzig ist es normal, sich danach zu sehnen.
    Meine Mutter hatte mich in dem Glauben erzogen, das Leben sei ein Kampf, gegen den man sich wappnen müsse. Trotzdem war ich eine unverbesserliche Romantikerin geblieben, ein junges Ding, das immer noch an Märchen und an die große Liebe glaubte. Meine Großmutter hielt das für unabänderlich - ich hätte es im Blut, meinte sie. Auch sie war romantisch veranlagt; sie hatte viermal geheiratet. Und meine Mutter glaubte ebenfalls an die große Liebe - bis mein Vater starb.
    So überquerte ich, kaum dass ich auf dem Flughafen Roissy-Charles de Gaulle aus dem Flieger geklettert war, auch schon den Quai d'Orsay, rutschend und schlitternd und bis zu den Knien im Schnee. Nur mit einem Trenchcoat und in Schuhen mit lächerlich dünnen Sohlen trotzte ich dem Winter und dem eisigen Wind, der über die Seine und durch mein Haar pfiff. Ich wollte zur Eglise américaine, der amerikanischen Kirche, in der alle englischsprachigen Rucksackreisenden sich versammeln, um Arbeit und eine Bleibe zu suchen.
    Ich fand den Zettel von Colangue hoch oben am Schwarzen Brett, in der oberen rechten Ecke, sodass meine Füße aus den quietschend nassen Schuhen schlüpften, als ich mich reckte, um ihn besser lesen
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